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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod
Autoren: Sara J. Henry
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Mein Hund, mein Haus, meine Regeln. Einer der vielen Gründe, aus denen ich immer gern Single gewesen bin.
    Im Bad breitete ich den Inhalt meiner Brieftasche zum Trocknen auf einem Handtuch aus und warf meine nassen Visitenkarten weg. Dann fiel mir ein, dass ich Thomas anrufen musste.
    Manchmal fragte ich mich, was er an mir fand. Wir haben uns letztes Jahr im Spätsommer kennengelernt, als er zu einem Wettrennen in Lake Placid war. Er tat, als würde es ihm nichts ausmachen, dass ich mich nicht dauerhaft auf ihn festlegen wollte. Nicht, dass die Männer Schlange standen, um mit mir auszugehen, aber man kann nie wissen. Er ist Professor für Geschichte an der Universität von Vermont und der methodischste und organisierteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er würde niemals etwas aus einem Impuls heraus tun, zum Beispiel in den Lake Champlain springen. Er würde nicht verstehen, was mich dazu getrieben hatte.
    Also erzählte ich ihm nichts davon. Ich sagte nur, es habe einen Notfall gegeben, und ich hätte mich um den Sohn einer Bekannten kümmern müssen. Was beinahe stimmte. Jeder andere hätte nach Einzelheiten gefragt, aber nicht Thomas.
    Das Gespräch endete unbeholfen, so wie immer. Ich weiß, Thomas möchte »Ich liebe dich« sagen, doch die natürliche Antwort wäre »Ich dich auch«. Und das sage ich nicht, was |30| er ganz bestimmt weiß. Ich kann ihn nicht belügen, und auch das weiß er.
    Etwas fehlt. Ich weiß nicht, ob es an ihm oder an mir liegt. Jedenfalls ist er so klug, dass ich bei ihm nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen muss. Wir laufen beide gern, fahren Rad, machen Langlauf und, na ja, ansonsten funktioniert bei ihm auch alles bestens. Manchmal denke ich, ich sollte das Ganze beenden, um ihm keine falschen Hoffnungen zu machen. Aber ich würde ihn vermissen. Also tue ich gar nichts. Und komme mir wie eine Betrügerin vor.
    Ich ging die knarrende Treppe hinunter, um die Tür unten abzuschließen. Als ich den Riegel vorschob, lief in meinem Gehirn plötzlich ein Film ab. Der Junge fiel, ich sprang ins Wasser, schwamm eine Ewigkeit, schleppte mich mühsam mit ihm zum Auto.
    Angenommen, du hättest ein Kind in den See geworfen. Würdest du dableiben und zusehen, wie es ertrinkt?
Hatte jemand beobachtet, dass ich ihn gerettet hatte? Es lief mir kalt den Rücken hinunter, als mir der nächste Gedanke kam:
Angenommen, du hättest ein Kind in den See geworfen und wüsstest, dass es überlebt hat. Würdest du nach ihm suchen?
Ich wollte das vernünftig durchdenken. Doch da ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, ein Kind von einem Schiff zu werfen, war der Versuch zum Scheitern verurteilt.
    Der Junge hatte sich im Bett zusammengerollt, das Gesicht zur Wand, daneben Tiger. Das Fenster stand ein Stückchen offen, wie ich es in den Monaten ohne Schnee immer halte. Sollte jemand eine Leiter ans Haus lehnen, um hereinzuklettern, würde ich es hören. Oder Tiger.
    Als ich beim Zähneputzen in den Spiegel schaute, schnitt ich eine Grimasse. Mein Gesicht war angespannt, mit dunklen Schatten unter den Augen. Ich wusste nicht, wann ich mich zuletzt so sehr nach Schlaf gesehnt hatte. Ich musste mich anstrengen, um die Zahnbürste zu bewegen.
    |31| Auf Zehenspitzen schlich ich ins Schlafzimmer und legte mich auf meine Seite, dem Jungen den Rücken zugewandt, Tiger zwischen uns. Ich schloss die Augen und war schon halb im Nimmerland.
    »Trrroy«, sagte eine leise Stimme neben mir.
    »Mmm.« Ich war zu müde, um mich umzudrehen.
    »
Je m’appelle Paul.«
    Ich lag ganz still da und horchte auf seinen Atem. »Okay, Paul«, sagte ich schließlich. »Träum schön.
Fais de beaux rêves.
«

|32| 5
    Ich erwachte abrupt und in derselben Position, in der ich eingeschlafen war. Sonnenlicht fiel durchs Fenster, und der Staub in der Luft schien auf dem Fensterbrett zu tanzen. Tiger stand mit anklagendem Blick neben dem Bett, als hätte ich sie sträflich vernachlässigt. Ich warf einen Blick auf den Wecker: 8.47   Uhr. So lange schlafe ich sonst nie. Normalerweise springe ich um sieben oder noch früher aus dem Bett.
    Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich alles nur geträumt hatte: die Autofahrt, die Fähre, das Kind, das Schwimmen im See. Vielleicht hatte ich das Haus gar nicht verlassen, um zu Thomas zu fahren. Ich stützte mich auf die Ellbogen, drehte mich zur Seite und sah den kleinen Körper, der zu einer Kugel zusammengerollt war, und das schlafende Gesicht.
    Troy, was hast du getan?
Ich konnte die Worte
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