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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod
Autoren: Sara J. Henry
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beinahe hören, eine vorwurfsvolle innere Stimme. Doch die eigentliche Frage lautete:
Troy, wer bist du?
Heute Morgen war ich ein anderer Mensch als gestern Morgen. Ein Mensch, der von einer Fähre gesprungen war, ein Kind gerettet und es mit nach Hause genommen hatte. So etwas tat Troy Chance gewöhnlich nicht.
    Und doch hatte ich es getan.
    Es erschien mir am vernünftigsten.
Ich stellte mir vor, wer so etwas allen Ernstes sagen würde: eine Autofahrerin, die sich einreden wollte, dass sie niemanden überfahren hatte, dass es nur ein Hubbel auf der Straße oder ein wildes Tier gewesen war, und dass es nicht sicher gewesen sei, dort anzuhalten. Oder eine Frau, die das Baby aus einem Kinderwagen vor |33| einem Geschäft mitgenommen hatte, weil sie sich doch viel besser darum kümmern würde als seine Eltern, die es allein gelassen hatten.
    Ich könnte das Kind wecken, es zur Polizeiwache bringen, die nur einen Häuserblock entfernt war, und alles erklären. Das kalte Wasser, das lange Schwimmen, die schockierende Erkenntnis, dass jemand ein Kind einfach weggeworfen hatte – ich hätte gestern einfach nicht klar denken können. Man würde mir glauben. Dies war eine Kleinstadt, in der die Leute mich kannten und mochten. Ich war Sportredakteurin der Tageszeitung gewesen, hatte über die Baseball- und Eishockeyspiele ihrer Kinder berichtet, über Fußballturniere und Leichtathletik, hatte Fotos in die Zeitung gesetzt und die Namen der Leute richtig geschrieben. Ich würde zur Heldin werden, weil ich ein Kind gerettet hatte. Dass ich es nicht sofort gemeldet hatte, würde man geflissentlich übersehen.
    Doch ich hatte genau gewusst, was ich tat.
    Ich hatte einen Jungen gerettet, den jemand anders weggeworfen hatte, und beschlossen, ihn nicht den Behörden zu übergeben. Ich wollte nicht riskieren, dass man ihn in eine schlechte Pflegefamilie oder zurück zu dem Menschen schickte, der ihn ertränken wollte. Ich hatte ihn gefunden, und er vertraute mir. Daher hatte ich beschlossen, ihn zu behalten. Vorerst.
    Ich saß im Bett und betrachtete den schlafenden Jungen, dessen kleiner Körper sich bei jedem Atemzug sanft bewegte.
    Für Außenstehende mochte das unvernünftig klingen, aber es war auch nicht vernünftig gewesen, an einem grauen, nebligen Tag an Deck zu sein oder zu glauben, ich hätte ein Kind ins Wasser fallen sehen, oder darauf zu vertrauen, dass ich es im trüben Wasser finden konnte. Oder dass wir die lange Zeit im kalten Wasser überleben und an Land schwimmen konnten.
    Doch wir hatten es geschafft. Und vielleicht war es mir bestimmt, ihn nicht leichtfertig wieder herzugeben.
    Ich hievte mich aus dem Bett und musste ein Stöhnen unterdrücken. |34| Ich hätte nicht gedacht, dass Schwimmen solche Schmerzen verursachen kann; ich fühlte mich, als wäre ich tausend Jahre alt. Der Junge rührte sich nicht. Ich humpelte ins Büro und schaltete den Computer ein, bevor ich Tiger nach draußen ließ. Während sie sich dankbar auf dem Rasen erleichterte, kam mein Gehirn allmählich auf Touren.
Vielleicht waren die Eltern des Jungen gar nicht auf der Fähre gewesen.
Vielleicht hatte ihn jemand entführt – so wie den kleinen Jungen aus Las Vegas, der von Drogenhändlern entführt und ausgesetzt worden war – und dann in den See geworfen.
    Aber wenn es seine Eltern, Stiefeltern oder ein Vormund gewesen waren und sie die Tat jemand anderem in die Schuhe schieben wollten? Susan Smith hatte damals behauptet, ein Autodieb habe den Wagen mit ihren beiden kleinen Söhnen entführt, während sie ihn in Wirklichkeit selbst in einen See gesteuert hatte, um die Kinder zu töten. Woher sollte ich wissen, ob irgendein tränenüberströmter Mensch in den Nachrichten die Wahrheit sagte?
    Keine Ahnung.
    Ich schüttete Futter in Tigers Napf und ging wieder nach oben. Der Junge schlief noch. Ich setzte mich an den Computer und öffnete den Browser.
    Falls dieses Kind entführt worden war, würden die Nachrichten groß darüber berichten. Dann könnte ich ihn beruhigt nach Hause gehen lassen. Ich hätte schon gestern Abend nachsehen sollen, aber mein Gehirn hatte einfach nicht richtig funktioniert. Ich hätte seinen Eltern eine entsetzliche, schlaflose Nacht bereitet, aber dafür gab es ja eine Entschuldigung.
    Tiger tappte die Treppe hoch ins Schlafzimmer und sprang auf das Bett, das knarrend nachgab. Sie wollte offenkundig bei dem Jungen bleiben.
    Ich öffnete Google und gab
vermisster Junge Vermont
und
entführter Junge Paul
und
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