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Ein Haus für vier Schwestern

Ein Haus für vier Schwestern

Titel: Ein Haus für vier Schwestern
Autoren: Georgia Bockoven
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Verärgerung ließ seinen weichen Südstaatenakzent härter klingen.
    »Die Sitzung hat länger gedauert als geplant.«
    Seine Hand fuhr über sein Haar, er richtete sich auf und bedeutete ihr ungeduldig, sich zu setzen. »Was hast du herausgefunden?«
    Sie würde ihn nie belügen. Sogar die kleinen Notlügen und Ausreden, mit denen Freunde die Wahrheit bemäntelten, blieben ihr verwehrt. Er wiederum würde sie nie bitten, in einer Angelegenheit Partei für ihn zu ergreifen, die sie für töricht hielt. Es blieben ihm noch ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr, wenn er dem Krebs ebenso die Stirn bot wie anderen Widrigkeiten seines Daseins. Aber das war nicht genug Zeit. Nicht genug, um all seine Pläne umzusetzen.
    »Bisher noch nichts«, sagte sie schließlich. Das war keine Lüge, sondern eine Ausrede.
    »Das dauert alles zu lange. Schick einen zusätzlichen Privatdetektiv los.« Er rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Zum Teufel noch mal, es gibt Menschen, die dir im Fernsehen garantieren, dass sie jeden, wirklich jeden, innerhalb von einer Woche finden.«
    »Seit wann schaust du fern?«
    »Darum geht es doch nicht.«
    »Das weiß ich. Ich möchte aber trotzdem wissen, warum du deine Zeit mit Fernsehschauen …«
    Wie konnte sie nur so eine blöde Frage stellen? Sie hatten beide nicht geahnt, wie schnell und problemlos er sich aus seinen diversen Geschäften würde zurückziehen können – und wie leer sein Leben danach sein würde.
    Vor dreieinhalb Monaten, an Thanksgiving, war Jessie zum Sterben ins Krankenhaus gegangen, tief enttäuscht darüber, dass er das neue Jahrhundert mit den vorausgesagten Computerzusammenbrüchen und Atomkatastrophen nicht mehr begrüßen konnte. Doch eine Woche später wurde er wieder entlassen. Sein Krebs befand sich offensichtlich auf dem Rückzug, was keiner für möglich gehalten hatte. Grimmig akzeptierte er, dass ihm der von den Ärzten vorhergesagte schnelle Tod verwehrt wurde.
    Zwei Tage später tauchte er in ihrer Kanzlei auf und übergab ihr ein Testament, das ein anderer Anwalt aufgesetzt hatte. Als er ihr sagte, er hätte sich zuerst an einen Kollegen gewandt, war sie verwirrt und verletzt gewesen. Doch sie hatte sorgfältig darauf geachtet, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sie hatte die Unterlagen durchgesehen und die Details überflogen. Überzeugt davon, etwas falsch verstanden zu haben, hatte sie dann noch einmal von vorn angefangen. Als sie damit fertig gewesen war, hatte sie sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und den Mann angestarrt, den sie so gut zu kennen glaubte. Sie war völlig verblüfft und sprachlos über die Enthüllungen gewesen.
    »Das Fernsehen ist informativ«, sagte Jessie jetzt. »Ich habe eine völlig neue Welt entdeckt, von der ich bisher nichts wusste. Zeit wurde es. Ich denke, ich weiß, was seine Anziehungskraft ausmacht. Es ist, als würde man Leute dabei beobachten, wie sie nach einem Zugunglück aus dem Fenster springen und klauen, was auf die Gleise gefallen ist. Du kannst nicht glauben, was du siehst, und fühlst dich deswegen schuldig, kannst aber trotzdem nicht wegschauen oder abschalten.«
    »Das kommt mir bekannt vor. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich es eines Tages von dir zu hören bekomme.«
    »Sei nicht so streng mit mir Lucy.« Er lächelte sie unschuldig an. »Es hält mich vom Grübeln ab und beschäftigt mich.«
    »Auf andere Weise, als ich dir vorgeschlagen habe.«
    Ein neugieriger Blick traf sie. »Ich erinnere mich nicht, was das gewesen sein sollte.«
    Dieses Eingeständnis brach ihr fast das Herz.
    Jessy war vierundsechzig gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, wäre aber locker als Mittvierziger durchgegangen. Sein Verstand hatte schneller und zielgerichteter gearbeitet als bei anderen Menschen. Er war groß und schlank gewesen. Sein Aussehen hatte an Männer erinnert, die ihr Leben auf dem Rücken eines Pferdes verbrachten. Wenn er gelächelt hatte, bildete sich ein kleines Grübchen neben dem linken Mundwinkel. War er in diesem Moment besonders konzentriert, endete das Lächeln immer mit einem Zwinkern. Sie war ihm bereits verfallen gewesen, bevor ihr erstes Gespräch fünf Minuten alt gewesen war. Seit jenem Tag bildete er die Messlatte, an der sie andere Männer maß.
    »Besuch die Wohltätigkeitsorganisationen, die du in deinem Testament bedacht hast«, erinnerte sie ihn vorsichtig. »Gib ihnen eine Chance, dir persönlich zu danken.«
    »Warum sollte ich das tun?«
    »Sie würden sich darüber
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