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Ein Haus für vier Schwestern

Ein Haus für vier Schwestern

Titel: Ein Haus für vier Schwestern
Autoren: Georgia Bockoven
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hatte mit seiner Antwort gezögert. Die Frage irritierte ihn offensichtlich. Sie ließ es damals dabei bewenden.
    Heute entschied Lucy sich dafür, es noch einmal zu versuchen. »Du hast außer bei Elizabeth nie versucht, eine andere deiner Töchter zu finden?«
    Er sah an ihr vorbei auf die Bücherregale hinter seinem Schreibtisch. Auf diesen Regalen lagen Trophäen und Erinnerungsstücke aus einem Leben in unglaublichem Reichtum und erbärmlicher Armut: Erstausgaben von Hemingway und Twain neben Pfeilspitzen von der Farm seiner Familie in Oklahoma und einer Kugel aus der Schlacht von Gettysburg.
    Ein Regal unterschied sich von den anderen; dorthin sah er jetzt. In der Mitte stand ein kleines Kästchen auf einer Art Holzpodest. Es enthielt das Purple Heart, das amerikanische Verwundetenabzeichen. Der Orden hing an einem rot-weiß gestreiften Band, das Bronzerelief war ziemlich abgegriffen. Vor vielen Jahren war Lucy einmal versucht gewesen zu fragen, wofür er es erhalten hatte. Sein Blick hatte dafür gesorgt, dass ihr die Frage ihm Hals stecken geblieben war. Seitdem war der Fall für sie erledigt.
    »Vor einer Weile habe ich von einem mexikanischen Geschäftspartner erfahren, dass Christina zurück in den Staaten ist und in Arizona das College besucht. Doch nach dem Erlebnis mit Elizabeth war ich …« Jessie hielt inne. »Ich konnte sie nicht einfach anrufen oder so. Also bin ich hingefahren, um mir ein Stück anzusehen, in dem sie eine Rolle hatte.«
    »Und?« Lucy wollte, dass er weitererzählte.
    »Ich habe sie nicht erkannt und musste im Programmheft nachsehen, wen sie spielte. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie vielleicht drei oder vier Jahre alt. Es ist ziemlich dämlich gewesen, dort aufzutauchen und zu denken, ich würde nach einer so langen Zeit das kleine Mädchen von damals wiedererkennen. Und sie konnte schon gar nicht wissen, wer ich bin.«
    Er zuckte mit den Schultern, unterstrich damit seine Entscheidung.
    »Trotzdem habe ich es versucht. Blöd von mir, ich weiß. Ich bin nach der Vorstellung zu der Fragerunde geblieben, wo das Publikum mit den Schauspielern sprechen konnte. Dabei habe ich sie lange beobachtet, bis mir etwas einfiel, was ich sagen konnte, ohne sie völlig zu verstören. Ich habe sie also gefragt, ob sie ihr Talent vielleicht geerbt hätte. Sie hat mir ohne zu zögern und ohne ein Anzeichen des Erkennens geantwortet. Ich habe keine Möglichkeit gesehen, ihr zu sagen, wer ich bin.« Er seufzte tief, begleitet von einem traurigen Lächeln.
    »Und die anderen beiden, Ginger und Rachel?«
    »Die habe ich nie zu finden versucht. Na ja, zumindest nicht mehr, seit sie keinen kleinen Kinder mehr sind. In Anbetracht der Umstände war mir klar, dass sie mich als Erwachsene nie würden treffen wollen.« Sie schwieg. »Sag mir, was du denkst, Lucy.«
    Endlich, nach zwanzig Jahren, bekam sie eine Vorstellung davon, woher Jessies zielgerichtetes Streben und sein übermächtiges Bedürfnis nach einem eigenen Imperium rührten. Nicht vom Verlangen nach Geld oder Erfolg. Nein, er brauchte etwas, was ihn vor den Geistern der Vergangenheit und vor seinen Schuldgefühlen schützte.
    »Ich kann dir die Sache nicht ausreden?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich muss das einfach machen.«
    Sie gab klein bei. »Dann muss ich sehen, was ich tun kann, um dem Ermittler Feuer unterm Hintern zu machen.«
    »Verdopple sein Honorar.«
    »Ich glaube nicht, dass …«
    »Mach es einfach, Lucy.« Dann sprach er in gemäßigtem Tonfall weiter. »Ich glaube an Neuanfänge, Lucy. Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich das nicht tun würde.« Er lächelte sie an und zwinkerte. »Diesmal ist das Schicksal offensichtlich auf meiner Seite. Diese Jahrtausendwende war etwas Besonderes, oder? Etwas, was im Gedächtnis bleibt. Es muss einen Grund dafür geben, dass ich sie erlebt habe.«

2
    Ginger
    Verletzt und verärgert zugleich, ging Ginger Reynolds aus ihrem Wohnzimmer nach oben ins Schlafzimmer. Auf dem Weg dahin löschte sie Duftkerzen im Wert von mehreren hundert Dollar. Zarte schwarze Rauchfahnen stiegen zur Decke auf – die dunklen Wolken passten gut zu ihrer Stimmung.
    Die Prämie für ihre Autoversicherung würde nach ihrem jüngsten Zusammentreffen mit einem Betonpfeiler ziemlich in die Höhe schnellen. Da sollte sie eigentlich kein Geld für etwas Überflüssiges wie Kerzen ausgeben. Aber es war so lang her gewesen, dass sie für etwas Verrücktes und vollkommen Sinnloses Geld ausgegeben hatte, um
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