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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter
Autoren: Kristin Hannah
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habe«, bemerkte er und nahm die Kassette aus dem Recorder. »Stalin hat so lange alles unter Verschluss gehalten, dass Geschichten wie Ihre erst in letzter Zeit ans Licht kommen. Dies wird den Menschen wirklich etwas bedeuten, Mrs Whitson.«
    »Ich habe es für meine Töchter getan«, erklärte die Mutter und richtete sich wieder auf.
    Nina sah, wie ihre Mutter wieder an Kraft gewann, und fragte sich plötzlich, ob wohl alle Überlebenden von Leningrad gelernt hatten, sich so zu verhärten. Sie nahm es an.
    »Natürlich sind alle offiziellen Angaben mit Vorsicht zu genießen, aber während der Belagerung von Leningrad sind mindestens eine Million Menschen gestorben. Über siebenhunderttausend verhungerten. Mit Ihrer Geschichte haben Sie auch ihnen eine Stimme gegeben. Ich danke Ihnen.« Maxim wollte noch etwas sagen, doch da gab Wassili im Bett einen undeutlich krächzenden Laut von sich.
    Maxim beugte sich über seinen Vater. »Wie bitte?« Er neigte sich noch näher an sein Gesicht. »Ich verstehe nicht …«
    »Danke«, sagte Nina leise zu ihrer Mutter.
    Diese beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Meine Ninotschka«, flüsterte sie. »Ich danke dir . Weil du einfach nicht lockergelassen hast.«
    Nina hätte jetzt Stolz empfinden sollen, vor allem, als sie Meredith zustimmend nicken sah, doch stattdessen empfand sie nur Schmerz. »Ich habe nur an mich gedacht. Wie üblich. Ich wollte deine Geschichte hören, also habe ich dich zum Reden gezwungen. Ich habe mir nicht einmal darüber Gedanken gemacht, wie weh dir das tun könnte.«
    Die Mutter lächelte noch strahlender, obwohl ihr noch Tränen in den Augen standen. »Deshalb bist du so ein Geschenk für die Welt, Ninotschka. Ich hätte euch das alles schon vor langer Zeit erzählen sollen, habe es aber eurem Vater überlassen, für uns beide zu sprechen. Eine weitere Fehlentscheidung von mir. Du bringst Licht in dunklen Zeiten. Das bewirken deine Bilder. Du lässt nicht zu, dass Menschen sich von allem, was weh tut, abwenden. Ich bin so ungeheuer stolz auf deine Arbeit. Du hast uns gerettet.«
    »Ja, wirklich«, bekräftigte Meredith. »Ich hätte sie davon abgehalten, ihre Geschichte zu erzählen. Es ist dein Verdienst, dass wir hier gelandet sind.«
    Bis jetzt hatte Nina nicht gewusst, dass Anerkennung die eigene Welt aus den Angeln heben kann, aber genau so empfand sie es jetzt: Ihre Welt wurde aus den Angeln gehoben, und sie begriff zum ersten Mal, wie sehr sich Liebe auf alles im Leben auswirkt. Sie wusste, dieses neue Verständnis von Liebe würde ihr Leben verändern. Schon jetzt konnte sie sich nicht mehr ein Leben ohne Liebe – und ohne ihre Lieben – vorstellen. Gleichzeitig wusste sie, dass noch mehr Liebe auf sie wartete, in Atlanta, wenn sie es nur zuließe. Vielleicht würde sie ein Telegramm schicken, in dem stand: Und wenn ich nicht nach Atlanta gehen will? Wenn ich ein anderes Leben möchte, ein anderes Leben als die anderen, aber eins mit Dir? Würdest Du mit mir gehen? Oder würdest Du dort bleiben? Und wenn ich sagte: Ich liebe Dich?
    Aber das würde bis morgen warten müssen.
    »Wie soll ich je wieder fort können?«, fragte sie und blickte ihre Mutter und ihre Schwester an. »Wie kann ich euch allein lassen?«
    »Wir müssen nicht aufeinanderhocken, um verbunden zu bleiben«, meinte Meredith.
    »Deine Arbeit ist das, was dich ausmacht«, sagte die Mutter. »Liebe macht alles möglich. Ich hoffe nur, dass du öfter nach Hause kommst.«
    Noch während Nina überlegte, was sie darauf antworten sollte, sagte Maxim: »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber mein Vater fühlt sich nicht besonders wohl.«
    Die Mutter löste sich von Meredith und Nina und trat zum Bett.
    Nina folgte ihr.
    Die Mutter starrte auf Wassili, dessen Gesicht vom Schlaganfall verzerrt war. Seine Schläfen waren nass und auf dem Kopfkissen hatten sich von den Tränen Flecken gebildet. Sie streckte die Hand aus, berührte sein Gesicht und sagte etwas auf Russisch.
    Nina sah, dass er versuchte zu lächeln, und musste unwillkürlich an ihren Vater denken. Sie schloss die Augen, um wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben zu beten. Vielleicht war es auch kein Gebet. Eigentlich dachte sie nur Danke, Papa und beließ es dabei. Er wusste, was sie sonst noch sagen wollte. Er hatte zugehört.
    »Hier«, sagte Maxim und seine Stirnfalte vertiefte sich, als er der Mutter einen Stapel schwarzer Kassetten gab. »Ich bin mir ziemlich sicher, mein Vater möchte,
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