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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter
Autoren: Kristin Hannah
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Stadtrand von Sitka. Von ihren Balkonen aus hatten sie einen Blick über die friedliche Bucht, die grünen Anhöhen der nahe gelegenen Inseln und den fernen Gipfel von Mount Edgecumbe. Während Nina duschte, setzte sich Meredith auf den Balkon und stützte ihre Füße aufs Geländer. Ein einsamer Adler segelte müßig über dem Meer und ließ seinen Schatten silbrig über dem tiefblauen Wasser kreisen.
    Meredith schloss die Augen und lehnte sich zurück. In ihrem Kopf wirbelten wie schon den ganzen Tag Gedanken, Erinnerungen und Erkenntnisse wild durcheinander. Sie deutete ihre Kindheit um, nahm Teile auseinander und überprüfte sie im Licht der neuen Informationen über ihre Mutter. Seltsamerweise wurde die Stärke, die sie jetzt an ihrer Mutter sah, auch ein Teil von ihr selbst. Jeffs Bemerkung Du bist genau wie sie gewann eine neue Bedeutung und verlieh Meredith Selbstvertrauen. Wenn sie etwas aus all diesem gelernt hatte, dann, dass das Leben – und die Liebe – von einem Augenblick zum anderen vorbei sein konnte. Man musste mit aller Kraft daran festhalten, solange man es hatte, und jede Sekunde auskosten.
    Sie hörte hinter sich die Balkontür gehen. Zuerst dachte sie, es wäre Nina, die ihr sagen wollte, das Bad sei frei, aber dann roch sie den süßen Rosenduft vom Shampoo ihrer Mom.
    »Hey«, sagte Meredith lächelnd. »Ich dachte, du wärst schon ins Bett gegangen.«
    »Ich kann nicht schlafen.«
    »Vielleicht ist es zu hell.«
    »Ich kann nicht mit den Kassetten in meinem Zimmer schlafen«, erwiderte sie und nahm neben Meredith Platz.
    »Wir können sie bei uns aufbewahren.«
    Die Mutter rang nervös die Hände. »Ich muss sie heute Abend noch abgeben.«
    »Heute noch? Es ist schon Viertel nach neun, Mom.«
    » Da . Ich hab mich unten erkundigt. Die Adresse ist nur drei Blöcke weiter.«
    Meredith wandte sich zu ihr. »Ist das dein Ernst? Warum denn?«
    »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Es ist natürlich albern. Aber ich will das endlich alles hinter mir haben.«
    »Dann rufe ich dort an.«
    »Es gibt keinen Eintrag im Telefonbuch. Ich hab von meinem Zimmer aus die Auskunft angerufen. Wir werden einfach dort vorbeischauen müssen. Am besten heute noch. Morgen ist er vielleicht arbeiten, und dann müssen wir warten.«
    »Mit den Kassetten.«
    »Mit den Kassetten«, sagte sie leise, und Meredith sah, wie sehr sie sich bemühte, ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Und Angst, das erkannte sie jetzt. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, jagte ihr ausgerechnet das greifbare Zeugnis ihrer Vergangenheit Angst ein.
    »Ist gut«, sagte Meredith. »Ich hole Nina. Wir gehen zusammen.« Sie stand auf und ging zur Balkontür. Als sie an ihrer Mutter vorbeikam, legte sie ihr kurz eine Hand auf die Schulter. Durch die Wolle ihres handgestrickten Pullovers spürte sie, wie knochig sie war.
    In letzter Zeit konnte Meredith nicht an ihrer Mutter vorbeigehen, ohne sie zu berühren. Allein das war schon ein Wunder nach den vielen Jahren emotionaler und physischer Distanz. Jetzt schob sie die Glastür auf und trat in das kleine Zimmer. Darin standen zwei Betten mit rotgrünen Tagesdecken und elchförmigen schwarzen Kissen. An den Wänden hingen Schwarzweißbilder von Sitkas Anfängen. Ninas Bett war mit Fotoausrüstung und Kleidung übersät.
    Meredith klopfte an die Badezimmertür und trat ein, als sie keine Antwort bekam.
    Nina föhnte sich gerade das Haar und sang dabei aus voller Kehle »Crazy for you« von Madonna. Mit ihren kurzen schwarzen Haaren und der makellosen Haut sah sie aus wie zwanzig.
    Meredith tippte ihr auf die Schulter. Nina erschrak und ließ beinahe den Föhn fallen. Grinsend schaltete sie ihn aus und drehte sich um. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt. Ich muss mir unbedingt die Haare schneiden lassen. Ich sehe langsam schon so aus wie Edward mit den Scherenhänden.«
    »Mom möchte heute Abend noch die Kassetten abgeben.«
    »Ach. Okay.«
    Meredith musste unwillkürlich lächeln. Genau hier zeigte sich mal wieder, wie unterschiedlich sie waren. Nina kümmerte es nicht, wie viel Uhr es war oder dass es unhöflich sein könnte, ohne Voranmeldung einfach bei Fremden vorbeizuschauen. Oder auch, dass ihre Mom einen schweren Tag hinter sich hatte und Ruhe brauchte.
    Nina witterte nur ein neues Abenteuer und war sofort bereit.
    Ein Charakterzug, den Meredith bei sich selbst kultivieren wollte.
    Nicht mal zehn Minuten später waren sie auf dem Weg und folgten dem Bürgersteig in die Richtung, die
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