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Ein Ganz Besonderer Fall

Ein Ganz Besonderer Fall

Titel: Ein Ganz Besonderer Fall
Autoren: Ellis Peters
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sprechen kann. Doch ohne Erlaubnis seines Herren würde er auch dann nicht sprechen, wenn er dazu in der Lage wäre. Was meint Ihr, könnte er der Sohn eines seiner Pächter sein? Gewiß etwas in dieser Art. Der Junge ist von guter Abstammung und gebildet. Er beherrscht das Lateinische fast so gut wie sein Herr.«
    Bei näherem Hinsehen erschien es ein wenig gewagt, einen Mann, der sich selbst Humilis nannte, der Demütige, und welcher der Welt entsagt hatte, als den Herrn eines anderen zu betrachten.
    »Ich dachte«, sagte Edmund etwas zögernd und sehr behutsam, »daß er sogar ein leiblicher Sohn sein könnte.
    Vielleicht irre ich mich gewaltig, aber ich mußte daran denken.
    Ich halte ihn für einen Mann, der seine Nachkommen liebt und schützt, und die Liebe und Bewunderung des Jungen kann die eines Sohnes für den Vater sein.«
    So konnte es tatsächlich sein. Der große Mann und der große Junge; sie waren einander ähnlich, sogar in den klar geschnittenen Gesichtern - insoweit jedenfalls, dachte Cadfael, als man die Gesichtszüge des jungen Bruders Fidelis überhaupt einmal zu Gesicht bekam, der so schweigsam und unaufdringlich durch die Enklave wanderte und sich an diesem unvertrauten Ort geduldig zurechtfand. Vielleicht litt er unter dem Wechsel mehr als sein älterer Gefährte, da er weniger Selbstvertrauen und Erfahrung, aber dafür die ganze Ängstlichkeit der Jugend hatte. Er klammerte sich an seinen Leitstern, und richtete jede Bewegung, die er machte, nach dessen Licht. Sie teilten sich eine Lesenische im Skriptorium, denn Bruder Humilis brauchte natürlich eine sitzende Beschäftigung, und es hatte sich erwiesen, daß er beim Kopieren eine geschickte Hand und beim Illustrieren eine gewisse Kunstfertigkeit besaß. Da aber nach einer Weile seine Kontrolle nachließ und seine Hand bei feinen Details zu zittern begann, hatte Abt Radulfus entschieden, daß Bruder Fidelis ihm Gesellschaft leisten sollte, um ihm beizustehen, wann immer er eine Pause brauchte. Die eine Hand ergänzte die andere, als wäre sie von ihr ausgebildet worden; allerdings mochte es auch bloße Nachahmung und Liebe sein.
    Gemeinsam leisteten sie eine langsame, aber bewundernswerte Arbeit.
    »Ich habe früher nie bedacht«, grübelte Bruder Edmund, »wie fremd und seltsam einem ein Mann vorkommt, der keine Stimme hat, und wie schwer es fällt, ihn zu erreichen und zu berühren. Ich habe schon mehrmals über den Kopf des Jungen hinweg mit Bruder Humilis gesprochen, als hätte er keinen Verstand und könnte nichts hören. Ich mußte mich schämen, und ich errötete. Aber wie soll man mit einem solchen Jungen umgehen? Ich habe darin keine Erfahrung, und ich bin sehr unsicher.«
    »Wer wäre das nicht?« gab Cadfael zurück.
    So ging es allen, wie er bemerkt hatte. Die Stille oder besser die Mäßigung beim Sprechen, die von der Ordensregel verlangt wurde, war eine Sache; doch das Schweigen, das Bruder Fidelis umgab, war eine ganz andere. Wer sich mit ihm austauschen mußte, benutzte meist Gebärden und wenig oder gar keine Worte und paßte sich seinem Schweigen an, als ob er tatsächlich weder Gehör noch Verstand hätte. Doch offensichtlich besaß er beides - äußerst wache und empfindliche Sinne und ein scharfes Gehör, das aufs leiseste Geräusch reagierte. Und auch das war seltsam. Die Stummen waren oft nur stumm und gaben keine Geräusche von sich, weil sie gar nicht wußten, daß es Geräusche gab. Aber dieser junge Mann war in den Schriften bewandert und beherrschte sogar die lateinische Sprache, was einen sehr beweglichen Geist erforderte. Vielleicht, dachte Cadfael zweifelnd, war seine Stummheit erst in den letzten Jahren entstanden, etwa durch ein Schrumpfen der Zungenmuskeln oder der Sehnen in der Kehle. Und selbst wenn er von Geburt an stumm war, konnten dann nicht trotzdem einige allzufest angespannte Sehnen unter der Zunge die Ursache sein? Vielleicht konnte man sie mit Übungen oder einem Schnitt lösen?
    »Ich mische mich zu sehr ein«, schalt Cadfael sich gereizt. Er schüttelte die Spekulationen ab, die zu nichts führen konnten.
    Und er ging in ungewohnt bußfertiger Stimmung zur Komplet und befolgte für den Rest des Abends das Schweigegebot.
    Am nächsten Tag ernteten sie die purpurschwarzen Pflaumen, die gerade reif geworden waren. Einige würde man sofort essen, frisch wie sie waren, einige würde Bruder Petrus durch Einkochen haltbar machen, bis sie dick und dunkel waren wie Mohn, und einige würden im
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