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Ein Ganz Besonderer Fall

Ein Ganz Besonderer Fall

Titel: Ein Ganz Besonderer Fall
Autoren: Ellis Peters
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Trockenhaus gelagert werden, damit sie schrumpften und kristallisierten und zäh und süß wurden. Cadfael hatte ein paar Bäume im kleinen Obstgarten der Enklave, doch die meisten Obstbäume standen draußen im Hauptgarten in der Gaye, in den üppigen Wiesen am Flußufer.
    Die Novizen und die jüngeren Brüder pflückten die Früchte, und die Oblaten und die Schuljungen durften helfen. Alle wußten, daß einige Handvoll unter den Umhängen verschwanden, statt in den Korb zu wandern, doch solange sich diese Plünderungen in Grenzen hielten, hatte niemand etwas einzuwenden.
    Es wäre zuviel verlangt gewesen, bei so schönem Wetter und einer so angenehmen Beschäftigung Schweigen zu fordern. Die Stimmen der Jungen hallten Cadfael fröhlich in den Ohren, als er in seiner Hütte Wein dekantierte und an der schattigen Mauer zwischen den Beeten herumlief, um die Pflanzen zu wässern und Unkraut zu zupfen. Ein schönes Geräusch! Er konnte die Stimmen unterscheiden; die der Kinder schrill und hell, die der Älteren in tieferen Tönen. Dieser warme, klare Ruf, das war Bruder Rhun, der jüngste der Novizen, sechzehn Jahre alt, erst seit zwei Monaten in der Probezeit und noch ohne Tonsur, falls er seinen impulsiven Entschluß, einer Welt den Rücken zu kehren, die er kaum kennengelernt hatte, wieder umwarf. Doch Rhun würde seine Wahl nicht bereuen. Er war zum Fest der heiligen Winifred als Krüppel und von Schmerzen gequält in die Abtei gekommen, und durch ihre Gnade konnte er wieder aufrecht gehen und war groß und beweglich und ließ sein Glück auf jeden ausstrahlen, der in seine Nähe kam. Im Augenblick also zweifellos auf seinen Partner beim Pflaumenpflücken. Cadfael ging zum Rande des Obstgartens, um sich zu vergewissern, und da hing der einst lahme Junge fröhlich und sicher zwischen den Ästen und zupfte die Früchte mit schlanken, kräftigen Händen so zärtlich ab, daß er kaum die Blätter berührte. Dann beugte er sich hinunter, um sie in den Korb zu legen, den ihm ein großer Bruder hielt. Cadfael konnte nur seinen Rücken sehen und erkannte ihn erst, als er sich herumdrehte, um Rhuns Bewegungen zu folgen. Es war Bruder Fidelis.
    Es war das erste Mal, daß Cadfael sein Gesicht so deutlich im Sonnenlicht sehen konnte; die Kapuze war zurückgeschlagen. Rhun hatte anscheinend überhaupt keine Schwierigkeiten, in der Nähe des stummen Bruders zu sein. Er plauderte fröhlich mit ihm und stieß sich nicht an seinem Schweigen. Rhun beugte sich lachend herunter, und Fidelis blickte lächelnd hinauf, ein Gesicht das Spiegelbild des anderen. Ihre Hände trafen sich am Griff des Korbes, als Rhun ihn mit ausgestrecktem Arm baumeln ließ, während Fidelis ein paar niedrig hängende Früchte pflückte, die Rhun ihm gezeigt hatte.
    Es war zu erwarten gewesen, dachte Cadfael, daß die tapfere Unschuld mutig ausschreitet, wo die meisten von uns nur zögernd den Fuß vorsetzen. Außerdem hatte Rhun die meiste Zeit seines Lebens selbst einen Makel gehabt, der ihn von allen anderen isoliert hatte. Er war nicht verbittert geworden und konnte deshalb heute furchtlos in die Einsamkeit eines anderen Menschen vordringen. Gott sei gedankt für ihn und für den Mut der Kinder!
    Er machte sich sehr nachdenklich wieder ans Jäten. Er mußte an das freudige, sonnenbeschienene Gesicht des Jungen denken, der sich sonst viel lieber in den Schatten zurückzog. Ein längliches Gesicht, mit festen Zügen und von Natur aus ernst blickend, mit hoher Stirn und kräftigen Wangenknochen, einer reinen Elfenbeinhaut, glatt und jugendlich. Dort im Obstgarten wirkte er kaum älter als Rhun, obwohl sicher einige Jahre zwischen ihnen lagen. Der Heiligenschein aus Lockenhaar um seine Tonsur war herbstlich braun, fast brennend hell und doch nicht rot, und die weit auseinanderstehenden Augen unter den dichten, geraden Brauen waren leuchtendes Grau, zumindest im vollen Licht der Sonne. Ein sehr hübscher junger Mann, beinahe ein verschleiertes Spiegelbild von Rhuns sonnenbeschienener Schönheit. Mittag und Dämmerlicht waren einander begegnet.
    Die Erntearbeiter waren noch am Werk, doch sie hatten den größten Teil ihrer Ernte schon eingebracht, als Cadfael seine Hacke und die Gießkanne wegstellte und sich auf die Vesper vorbereitete. Im großen Hof herrschte das übliche Nachmittagsgedränge; Brüder kehrten von ihrer Arbeit in der Gaye zurück, Gäste trafen im Gästehaus und in den Stallungen ein, im Kreuzgang probte Bruder Anselm mit einer kleinen
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