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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen
Autoren: Andrej Kurkow
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Koffeinsüchtige, aber hier waren so steile Treppenstufen, daß man sich beim Fliehen den Hals brechen konnte.
    Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß ich mir neben allem übrigen auch noch um die Gesundheit dieses Kostja Sorgen machte, obwohl ich ihn nie gesehen hatte und nicht sicher war, ob ich ihn in meinem letzten Moment überhaupt zu Gesicht bekommen würde.

6
    Der alte Fotograf ließ mich nicht im Stich. Und das Foto war auch nicht schlecht, wie die Autogrammkarte von einem Lieblingsschauspieler. Mit einem kaum erkennbaren, leicht rätselhaften Lächeln und einem klugen Augenzwinkern, das irgendwie an Lenin erinnerte.
    Abends regnete es. Ich saß in der Küche und genoß meine Einsamkeit. Ich trank Hagebuttentee und dachte an die Überraschung, die ich meiner Frau bereiten würde. Und ich dachte überhaupt nicht daran, daß unsere Beziehung oder deren Nichtvorhandensein längst auf eine ganz andere Ebene geraten war. Die letzte Nacht hatte sie nicht zu Hause verbracht und war nur morgens vorbeigekommen, um etwas zu holen oder sich umzuziehen. Das war sehr früh, ich schlief noch und hörte sie mehr, als daß ich sie sah.
    In ihrer Abwesenheit lag jetzt etwas Paradiesisches, etwas geradezu Menschliches in der Beziehung zu mir. Und der abendliche Regen wäre nicht so sentimental gewesen, hätte sie neben mir oder im Zimmer gesessen. Es gibt Leute, deren Abwesenheit Freude bringt oder sogar ein Glücksgefühl hervorruft. Es ist bloß schlecht, wenn dieser Mensch ausgerechnet deine eigene Frau ist.
    Selbst das Klingeln des Telefons verdarb nicht die angenehme Atmosphäre des Abends. Es war Kostja.
    Als er erfuhr, daß alles vorbereitet war, bat er mich, den Umschlag mit dem Foto und den ›Instruktionen‹ am nächsten Morgen in einen Abonnentenbriefkasten mit der Nummer dreihunderteinunddreißig im fünfundzwanzigsten Postbezirk zu werfen, gleich am Anfang der Wladimirskaja-Straße, fast neben der Andreaskirche.
    Nach dem Telefongespräch fühlte ich eine starke Müdigkeit, die mich völlig unerwartet überfiel. Ich wollte schlafen. Der abendliche Regen hatte etwas Einlullendes. Aber bevor ich schlafen ging, zwang ich mich, einen Kalender und ein Blatt Papier zu holen. Auf dem Kalender suchte ich mir den Tag meiner Ermordung aus: den nächsten Donnerstag. Zu diesem Wochentag hatte ich ein besonderes Verhältnis. Irgendwann an einem Donnerstag hatte ich ein Mädchen kennengelernt und sie in ein Café eingeladen. Das war im Podol-Viertel, und wir nannten dieses Café ein glückliches Jahr lang oder sogar etwas länger ›das Donnerstagscafé‹. Es war drei Minuten zu Fuß vom Kontraktowaja-Platz entfernt, direkt an der Straßenbahnlinie, die zum Flughafen führt. Das Café, das bis heute noch keinen Namen hat, ist düster, hat eine schlechte Beleuchtung und nur zwei kleine Räume. Natürlich hätte man sich einen hübscheren, ja einen respektableren ›Tatort‹ aussuchen können. Aber ich blieb bei meiner Entscheidung für dieses Café.
    Auf das Blatt Papier schrieb ich: »Donnerstag, den 12. Oktober, 18 Uhr, Café auf der Bratskaja-Straße nahe der Haltestelle der Straßenbahn einunddreißig, vom Postplatz aus gesehen.« Nachdem ich das Foto und den Zettel in einen Umschlag gesteckt hatte, ging ich mit dem Gefühl, meine Pflicht getan zu haben, schlafen.

7
    Dienstag. Am Morgen fand ich auf der besagten Post den Raum mit den Abonnentenbriefkästen und warf den Umschlag in die Nummer dreihunderteinunddreißig.
    Ich hatte noch zweieinhalb Tage zu leben, und ich mußte mich entscheiden, wie ich die verbringen sollte. Die mir verbleibende Zeit war schließlich schon so begrenzt, daß ich mir mühelos die Sekunden, ganz zu schweigen von den Minuten und Stunden, ausrechnen konnte.
    Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Das Wetter war schön. Es war, wahrscheinlich nicht für lange, der ›goldene Herbst‹ eingetreten, gelbe und rote Blätter, eine belebende angenehme Frische, ein absolut blauer Himmel ohne jeden Wind. Wenn es im Paradies einen Herbst gäbe, sähe er sicher genau so aus.
    Langsam ging ich über den Andreashügel runter zum Podol-Viertel. Die Galerien und Geschäfte hatten gerade erst aufgemacht. Den größten Lärm machten in diesem Moment meine Schuhe mit ihren billigen Plastiksohlen auf dem Kopfsteinpflaster.
    Ohne besonders darauf zu achten, wohin ich ging, landete ich schlußendlich auf der Bratskaja-Straße eben in jenem ›Donnerstagscafé‹. Zum Glück hatte es schon offen, und ein
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