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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen
Autoren: Andrej Kurkow
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war. Ich hastete nach Hause zu mir, fand den Schlüssel und fuhr zur Post.
    In dem Postfach fand ich einen Umschlag für Kostja. Ich stopfte ihn in meine Tasche, ging zum Zustellungsschalter und bezahlte das Postfach für ein Jahr im voraus. Dann lief ich auf dem knirschenden Schnee zur Andreaskirche und bog nach unten nach Spusk ab. Ohne jede Eile ging ich in das Café auf der Bratskaja-Straße, vereinte mich mit einem doppelten Mokka an meinem geliebten Ecktisch und zog den Umschlag aus der Tasche.
    Im Umschlag lag das Foto eines sorgfältig rasierten Mannes von etwa fünfzig Jahren in Anzug und Krawatte. Ein typisches Paßfoto. Auf der Rückseite stand: »10. Januar, Restaurant ›Spadschtschina‹, 18 Uhr.«
    Am 10. Januar fuhr ich nach Podol. Mich beherrschte ein seltsames Gefühl. Ich stellte mir Kostja an meiner Stelle vor und schaffte es nicht. Mir schwirrte der Kopf. Ich begriff, daß ich jetzt tatsächlich seine Stelle eingenommen hatte, ich trug seine Pantoffeln, ging ins Milchgeschäft, Kindernahrung für seinen Sohn kaufen … In den letzten drei Monaten war mein Leben radikal auf den Kopf gestellt worden. Und an diesem Tag suchte mich sozusagen die Vergangenheit heim, und wieder kamen mir Zweifel: Und wenn er doch noch lebte? Man sagt, ein Mensch lebt, solange noch jemand da ist, der nichts von seinem Tod weiß. Derjenige, der den Umschlag in Kostjas Briefkasten geworfen hatte, wußte nichts von Kostjas Tod.
    Und so kam ich zu dem Restaurant, das für einen Mord ausersehen war, der aufgrund des Todes des Vollstreckers nicht stattfinden würde. Die Situation hatte schon an sich etwas Theatralisches. Ich wollte den Menschen sehen, der heute nicht ermordet werden würde, den Menschen, der nicht einmal ahnte, von welchen Ereignissen, von welchen Zufällen sein heutiger Tag abhing. Natürlich könnten sie ihn morgen an einem anderen Ort und von jemand anderem ermorden lassen.
    Ich ging etwas früher in das gemütliche kleine Podoler Restaurant, ungefähr um halb sechs. Das Restaurant hatte nach der Pause gerade erst wieder geöffnet, und anscheinend erwartete der Kellner so früh noch keine Gäste.
    Er kam nach etwa zwanzig Minuten. Der Kellner plazierte ihn an einen Tisch neben der kleinen Estrade mit dem Gesicht zu mir.
    Die so entstandene Situation schien mir absolut theatralisch: ein Stück für zwei Schauspieler und einen Kellner, als einzigen, aber unsichtbaren Zuschauer. War das nicht die neue theatralische Avantgarde?
    Ich beobachtete den Menschen, dessen Foto ich in meiner Tasche hatte, genau, seine zitternden Hände, mit denen er die Speisekarte hielt. Ob er wohl von der über ihm schwebenden Gefahr wußte?
    Er bemerkte meine Blicke und sah mich auch an. Ich versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu erheischen, aber die unglückliche bunte Beleuchtung des Saals verhinderte es.
    Der Kellner brachte Wein und auch einen Imbiß. Ich nahm den Pokal mit Rotwein in die Hand und nippte. Mein Gefühl für die Realität veränderte sich, jetzt war die Situation nicht mehr theatralisch, sondern wie im Kino.
    Ihm brachte der Kellner eine Karaffe mit Wodka und einen Imbiß. Der Kellner schenkte ihm dienstfertig ein Glas ein, trat manieriert einen Schritt zurück und erstarrte für einen Moment. Er wartete das leichte Kopfnicken des Gastes ab und entfernte sich. In diesem Nicken lag die langjährige Gewohnheit eines machtgewohnten Mannes. Aber während er nickte, blickte er schon anders zu mir herüber, war es argwöhnisch oder demonstrativ gleichgültig? Dann, ohne den Blick von mir zu wenden, stand er vom Tisch auf, machte zwei Schritte in meine Richtung und blieb plötzlich stehen, griff sich mit der Hand ans Herz, starrte zur niedrigen Decke hoch und fiel hin. Auf den Lärm hin stürzte der Kellner in den Saal und blickte mich fragend an.
    »Einen Notarzt!« schrie ich. »Rufen Sie einen Notarzt!«
    Der Kellner rannte nach hinten und kehrte gleich wieder zurück.
    »Sie haben schon angerufen!« sagte er und beugte sich über den Liegenden.
    Ich ging auch hin.
    »Er ist tot …«, flüsterte der Kellner, als ob er seinen eigenen Worten nicht glaubte. Dann blickte er mich an und sagte: »Ein Herzinfarkt«, und zuckte sogleich mit den Schultern.
    Ich nahm meine Jacke vom Kleiderhaken und verließ schnell das Restaurant.
    Es war dunkel, und in der Dunkelheit fiel unaufhörlich Schnee.
    Ich eilte zur U-Bahn, den Schlüssel vom Briefkasten fest in meine Hand gepreßt, und ich empfand, wie alle Mörder, keinerlei
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