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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen
Autoren: Andrej Kurkow
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schon oft über den mir unverständlichen ›Stundenplan‹ unserer Begegnungen nachgedacht, wobei ich diesen ›Stundenplan‹ für ihr Leben hielt. Ich überlegte, womit sie ihre Tage verbrachte, wenn sie nicht bei mir war? Auf dem Kreschtschatik? Daran konnte ich kaum glauben. Der Kreschtschatik konnte eine Stunde in Anspruch nehmen, höchstens zwei. Wie konnte er außerdem bei der Kälte überhaupt in dem ›Stundenplan‹ existieren? Was wird im Frühling sein, wenn es wärmer wird und das Leben ›auftaut‹? Wieviel Zeit wird mir dann ihr Stundenplan zur Verfügung stellen? Daran wollte ich gar nicht denken, ich verdrängte diesen Gedanken sehr rasch und kehrte zu der Idee des Experiments zurück, an dem ich teilnahm. Der Pawlowsche Hund wollte nie von allein fressen. Er wartete auf das Signal, das Aufleuchten der Lampe. Und ich wartete auf ein anderes Signal, auf den Anruf. Dieser Gedanke war ulkig und lächerlich. Außerdem dachte ich, in jeder beliebigen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau steckte ein Experiment, und das allergrößte ist das gewöhnliche Familienleben. So daß nicht nur ich allein mich als Pawlowscher Hund fühlen mußte.

30
    Nach einem Tag in der Stille meiner Wohnung
    klingelte das Telefon stürmisch.
    Draußen schneite es wieder.
    Ich saß auf dem Stuhl neben dem Fernseher und las fremde Briefe – Majakowskijs Briefwechsel mit Lilja Brik. Ich suchte da Liebe und Romantik, fand aber nur spielerische Narreteien.
    Das Telefonklingeln ließ mich zusammenzucken.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte sich meine Beziehung zur Einsamkeit endgültig geändert, und selbst die durch Lenas Abwesenheit erzwungene Einsamkeit hatte sich für mich in eine fast freiwillige Zurückgezogenheit verwandelt.
    Ohne mich von der Liebe zwischen Majakowskij und Lilja Brik abhalten zu lassen, nahm ich den Hörer auf.
    »Hallo? Ist da Tolja?« fragte eine bekannte weibliche Stimme.
    »Ja«, antwortete ich.
    »Hier ist Marina, Kostjas Frau … Ich wollte mich noch einmal für den Abend neulich entschuldigen. Wie sind Sie denn nach Hause gekommen?«
    »Gut, ohne besondere Zwischenfälle …«
    »Gott sei Dank! Ich habe mir solche Sorgen gemacht … Wissen Sie, ich fühle mich so schuldig Ihnen gegenüber … Sagen Sie, hätten Sie heute abend Zeit?«
    Ich wartete gespannt auf einen neuen Hilferuf. Wenn ich nur nicht wieder auf das Kind aufpassen mußte!
    »Ja«, antwortete ich.
    »Dann lade ich Sie zum Abendessen ein … so gegen sieben.«
    Die Anspannung ließ nach, und erleichtert seufzte ich: »Danke, ich komme.«
    Das Telefongespräch hatte mich von Majakowskij und Lilja Brik abgelenkt. Ich warf das Buch auf das Sofa und ging in die Küche Kaffee trinken.
    Der starke Kaffee und die vor dem Fenster schräg vorbeischwebenden Schneeflocken. Die Biologie und die Geometrie des Lebens getrennt durch ein durchsichtiges Glas. Zwei Räume, von denen der eine, verschlossen und verwandelt in eine abgesonderte Welt, von der Natur abgeschnitten war. Meine ganz eigene Welt, nicht die geistige, sondern eine absolut physische. Einfach meine Behausung. Und ich selber bestimmte, wann und wieviel frische Luft ich in diese Umgebung hereinließ, wann ich das helle Licht des Tages mit Hilfe von Elektrizität verlängerte oder verkürzte, wenn ich die Gardinen zuzog. Die Macht über einen geschlossenen Raum – Quelle einer zeitweiligen Freude, eines flüchtigen Gefühls von tiefer Befriedigung. Die Macht der Zunge über eine Tasse Kaffee – die Bitterkeit des Kaffees muß versüßt werden, und dienstfertig nimmt die Hand einen Löffel Zucker, während das Auge streng darüber wacht: Ist es nicht zuviel Zucker, vielleicht reicht ein halber Löffel? Ein unmerkliches, unbewußtes Spiel, das jede Bewegung, jeden Wunsch begleitet. Genaugenommen ist der Wunsch an sich schon die Offenbarung von Macht. Von daher kommen nicht wenige eigenartige Wahrheiten in der Art von ›Der Wunsch einer Frau ist Gesetz‹, ›Der Kunde (das heißt derjenige, der einen Wunsch hat) hat immer recht‹. Die Welt ist auf Wünschen aufgebaut, und unter all diesen Wünschen ist der wichtigste der Wunsch, sich unterzuordnen. Ich glaube, ich weiß, wie dieser Wunsch entstanden ist. Alles fing mit der Frau an …
    Ich dachte an meine Frau. Sie hatte mich verlassen, weil ich mich geweigert hatte, mich ihr unterzuordnen. Diese Unterordnung hatte mir nicht gefallen, und schließlich hatte sie einen Menschen gefunden, der mit seiner Unterordnung die Harmonie ihres
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