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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen
Autoren: Andrej Kurkow
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junger Mann, der wie ein Student aussah, trank in einer Ecke seinen heute sicherlich ersten Kaffee. Ich holte mir auch einen Mokka, setzte mich an einen Tisch in der anderen Ecke und fing gleich an, über die mir zu leben verbleibenden Minuten und Stunden nachzudenken. Ich hätte zu gern ein Stück Papier gehabt, um einen genauen Plan aller noch zu erledigenden Dinge und Begegnungen aufzuzeichnen. Es sollte nicht sein wie sonst immer, sondern ich wollte wenigstens die Hälfte meiner Punkte als erledigt abhaken können. Aber ich hatte kein Papier bei mir, nur einen Kugelschreiber in der Anzugtasche.
    Ich sah zu dem Jungen hinüber und entdeckte eine Aktentasche bei ihm.
    »Entschuldigen Sie«, wandte ich mich an ihn. »Haben Sie zufällig ein Blatt Papier für mich?«
    Schweigend zog er ein Heft aus der Aktentasche und riß ein Doppelblatt heraus.
    Ich hatte das Papier schon vor mich auf den Tisch gelegt und versuchte mich zu konzentrieren, während er immer noch in seiner Aktentasche zwischen Büchern und Heften herumkramte.
    »Dienstag, der 10. Oktober«, schrieb ich.
    Dann guckte ich auf die Uhr. Es war halb elf.
    Was könnte ich heute machen? Jetzt gleich? Der Morgen schien eine nutzlose Zeit zu sein. Und als ich an die Bekannten und Freunde dachte, die ich gern sehen wollte, begriff ich plötzlich, daß dieser Wunsch nur aus einem momentanen sentimentalen Gefühl heraus geboren war. Es gab nichts Wichtiges bei diesen möglichen Begegnungen. Sich verabschieden? Das hatte doch keinen Sinn – ich durfte ja nichts von meinem Tod verraten! Und sich einfach so zu treffen, um über Nichtigkeiten zu reden, das langweilte mich schon seit langem.
    Vielleicht sollte ich mich mit Nina treffen, der Frau, die ich vor meiner Heirat verlassen hatte. Wir waren damals schon eher Freunde als Verliebte, was uns aber nicht daran hinderte, uns manchmal wie Verliebte aufzuführen. Es war eine langsam schwindende Leidenschaft, die weder sie noch ich vergessen wollten. Und wahrscheinlich deshalb, weil wir uns an sie erinnerten, wachte sie manchmal wieder auf und trieb uns einander in die Arme. Danach redeten wir bei einer Tasse Tee über die Anormalität unserer Beziehung und versprachen uns, von nun an nur noch Freunde zu sein. Aber das alles wiederholte sich wieder und wieder. Schließlich trafen wir uns nicht mehr, sondern telefonierten nur noch miteinander, und auch das immer seltener. Dann sah ich sie einmal zufällig in den Armen eines gutaussehenden und selbstbewußten Mannes. Sie kamen aus dem ungarischen Café Bon-Bon. Da begriff ich, daß dieser Teil meines Lebens beendet war, und spürte sofort eine merkwürdige Erleichterung. Ihretwegen. Ich hörte auf, sie anzurufen, weil mir klar war, daß sie das jetzt nicht mehr brauchte. Und sie hat auch nicht mehr angerufen.
    »Nina anrufen«, schrieb ich auf und trank einen Schluck Kaffee.
    Das Blatt Papier reizte mich durch seine Leere, seine Unausgefülltheit. Alle meine Wünsche, meine plötzlich auftretende Besorgtheit gegenüber der mir verbleibenden Lebenszeit, hatten jeden Sinn verloren. Was für Begegnungen? Was für Telefonate? Mich brauchte niemand, und ich brauchte auch niemanden. Das wurde mir plötzlich so sonnenklar, daß mir ein Schauer über den Rücken lief. Die Offensichtlichkeit meines Nichtgebrauchtwerdens in dieser Welt brachte mich auf positivere Gedanken, nämlich zu dem, daß der Entschluß, mich umbringen zu lassen, der einzig wahre war. Ich holte mir noch einen Kaffee und beurteilte die Situation nun bereits völlig kaltblütig. Ich strich das unnötige Telefonat mit Nina von meinem Zettel. Jetzt war ich vollkommen frei und konnte alle verbleibende Zeit nur mir und keinem anderen widmen.
    Der Junge, der in der gegenüberliegenden Ecke gesessen hatte, stand auf und ging hinaus. Ich blieb allein in dem Café. Die Bedienung war in einem Nebenraum verschwunden. Im Café war es schon allein wegen der dunklen Möbel schummrig. Draußen schien die um diese Jahreszeit unnütze Sonne. Obwohl sich natürlich Millionen von Bürgern über sie freuten. Die Bürger hatten sich daran gewöhnt, sich über unnütze Dinge zu freuen. Ich auch.
    Donnerstag abend werde ich mich näher an den Eingang setzen. So wird es bequemer sein.

8
    Mittwoch früh stand vor dem Fenster dichter Nebel. Ich ging gleich nach dem Aufstehen ans Fenster. Dann sah ich mich um und begriff, daß meine Frau wieder nicht zu Hause übernachtet hatte. Das erklärte mein Wohlbefinden. Es galt, den letzten
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