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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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noch ertragen, wenn er jetzt fortfahre und nie mehr aufhöre, solche hohen, sich endlos hinziehenden halblauten Schreie auszustoßen. Aber er durfte nicht. Sabine war jedes Mal so erschrocken, daß er gleich wieder aufhören mußte. Er hatte gesagt, er mache das nur aus Spaß. Bitte, sie möge überprüfen, seine Augen seien absolut trocken. Es mache ihm Spaß, diese kleinen Schreitöne auszustoßen. Aber Sabine hatte gesagt, dann könne sie nicht mehr leben. Diese Töne seien furchtbar.
    Jetzt durfte er seine Schreie ausstoßen, in so langen und so hohen Tönen wie er wollte. Er hatte wieder einen nicht wieder gut zu machenden Fehler gemacht.
    Erst als der Kiel plötzlich im Uferkies schürfte, hörte er auf, Töne auszustoßen. Er sprang ins Wasser, watete an Land und ging auf das nächste Licht zu.
    Die Leute erschraken. Sie verständigten den Krankenwagen. Sie nötigten ihn, Tee mit Schnaps zu trinken. Er sei in Immenstaad, sagten sie. Sie riefen die Wasserschutzpolizei an, damit sofort alles unternommen werde, seinem Freund zu Hilfe zu kommen. Sie riefen Sabine an. Sie riefen Helene Buch an. Helmut dachte, es sei das Beste, er selber bleibe apathisch. Klaus hatte in Unterhomberg gesagt, ein fliehendes Pferd lasse nicht mit sich reden. Er hatte zugestimmt.

    9.

    Helmut stand am Fenster und beobachtete mit dem Fernglas, wie in den Fingerhutblüten die zehnmal so großen Ameisen über die Blattläuse hingingen und sie molken. Voyeur, sagte Sabine. Vielleicht solltest du Helene Buch anrufen, sagte er. Wenn sie jetzt noch nichts gehört hat, hört sie nichts mehr, sagte Sabine. Hast du gesehen, die rötliche Lilie ist heute nacht aufgeblüht, sagte er. Sie würde uns doch anrufen, wenn sie etwas gehört hätte, sagte Sabine. Helmut ging auf dem Kirman-Teppich hin und her. Ruf sie doch an, sagte er, zur Sicherheit. Sabine stand auf und ging, widerwillig, zu Zürns hinüber. Sie konnte das. Er hatte in den elf Jahren noch nie das Zürn’sche Telephon benutzt.
    Als er einmal auf diesem hellen Kirman mit dem dunkelblauen Medaillon spazieren gegangen war, hatte er nichts gegen die Vorstellung tun können, er führe an seiner rechten Hand einen Menschen von der Größe eines siebenjährigen Kindes und dieser Mensch sei Friedrich Nietzsche, aber in seinem 40. Lebensjahr, aber reduziert auf die Maße eines Siebenjährigen. Und der hatte entsetzliche Angst vor Otto gehabt. Also hatte er sich richtig an Helmuts Hand geklammert.
    Klaus Buch hatte dann genau diese Angst vor Otto gehabt, die Helmut schon von seinem kleinen Nietzsche gekannt hatte.
    Helmut pflegte, wenn er allein über den Kirman ging, unwillkürlich vor sich hinzusprechen. Stille, sagte er dann, Stille, Stille. Und nach einer gewissen Pause: Tote eins rauf, Tote eins rauf. Das waren schon alte Gewohnheiten, dieses Stille und Tote eins rauf. Sobald Sabine draußen war, sagte er jetzt: Stille, Stille, und, nach einer Pause: Tote eins rauf, Tote eins rauf. Aber er hatte das Gefühl, daß er heute nicht von selbst zu sprechen begonnen hatte, sondern willkürlich. Sabine meldete, Hel habe noch nichts gehört. Gehen wir denn heute gar nicht hinunter, fragte er. Sie könne den See heute nicht sehen, sagte sie. Frau Zürn habe gesagt, in der Zeitung stehe, daß bei dem gestrigen Sturm drei Personen ertrunken seien. Einer sei ertrunken, obwohl zwei Motorboote an das gekenterte Segelboot herangefahren seien und dem Segler, der sich an seinem Boot festgeklammert habe, Leinen zugeworfen hätten. Die Wellen hätten den vom Boot weggerissen, die Leinen habe er nicht mehr fassen können, er sei vor den Augen der Retter verschwunden. Helmut nickte, als kenne er das. Sabine legte ihre Hände um ihn und schmiegte sich an ihn. Helmut erwiderte das, so gut es ging. Er gehe trotzdem ans Wasser. Vielleicht komme sie nach. Was hat Hel für einen Eindruck gemacht am Telephon, fragte er. Elend leise habe sie gesprochen. Fast nichts gesagt. Nur JA und NEIN. Helmut nahm den ersten Band Kierkegaard und ging rasch hinaus und hinunter ans Wasser. Otto freute sich und rannte mit. Draußen wurden sie von Zürns Florian begrüßt, der immer mit Otto etwas anfangen wollte. Aber die Hündin Otto wehrte die Versuche des gleichaltrigen Rüden Florian jedes Mal so böse als möglich ab.
    Der See wollte heute randlos erscheinen. Heiter. Und unschuldig. Das gefiel Helmut. Kein Mensch hätte in dieser sanft blau glänzenden Randlosigkeit den fauchenden Wilden von gestern wiedererkannt. Ein selbst
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