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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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unsichtbarer Dunst machte alles Sichtbare blau, indirekt, milde, immateriell, brachte es zum Schweben. Keine Begrenzungen mehr. Keine Kontraste. Nur noch Übergänge. War das nicht ein Tag, an dem man von dem Wort unendlich Gebrauch machen konnte? Hätte machen können, wenn … Er spürte seine Fersen. Eiskalt. Als lägen sie im Schnee. Die ganze Nacht hatte er immer wieder seine Fersen in seine Hände genommen und war jedes Mal überrascht gewesen, daß sie sich ganz normal anfühlten. Sobald er sie aber losließ, meldeten sie einen Schmerz, den er als Eiseskälte empfand. Zum ersten Mal hatte er diese Empfindung doch bei der ersten Segelpartie gehabt … Ja, ja, nur zu. Als er gestern abend endlich heimgefahren worden war und nur noch so rasch als möglich unter die Bettdecke wollte, war auf seiner Bettseite auf dem Bettvorleger ein riesiges Insekt gelegen. Ein schönes grünes Heupferd. Helmut wäre bald darauf getreten. Er wollte es aufheben, aber es hatte sich, wohl im Sterbekampf, in das Gewebe des Vorlegers gekrallt.
    Er mußte eine kleine Gewalt anwenden, es loszureißen. Von den langen Antennen war eine gesenkt. Sonst war das schöne grüne Tier völlig unversehrt. Seine Halbkugelaugen können offenbar nicht geschlossen werden. Helmut hatte gedacht: Nur zu. Flügel wie ein Frack, hatte er gedacht. Ein grünes Nackenschild wie ein Schubertkragen. Oder wie Klaus Buchs goldene, in den Kragen reichende Haarbrücke. Plötzlich hatte das Tier die lange untere Hälfte eines Hinterbeins angezogen und dann wieder fahren lassen. Dann hatte das ganze Hinterbein angefangen zu zucken. Es wurde richtig hin- und hergerissen. Auch das zweite Hinterbein zuckte ein bißchen. Der lange Leib zitterte. Er konnte das nicht mitansehen. Er legte das grüne Pferd auf die Fensterbank zwischen die Gitterstäbe, kroch unter die Bettdecke und wünschte ein Zittern herbei. Tatsächlich zitterte er dann. Eine ganze Weile. Dann mußte er noch Sabine anschreien. Ihr Wimmern mache alles nur noch schlimmer, schrie er. Darauf heulte Sabine laut heraus. Aber danach wurde sie ruhiger. Heute morgen war das Heupferd verschwunden gewesen.
    Er schlug sein schwarzes Kierkegaardbuch auf und begann zu lesen: Während meines Aufenthaltes hier in Gilleleie habe ich Esrom besucht, Fredensborg, Frederikvaerk und Tidsvilde. Der letzte Ort ist vornehmlich durch die Helenenquelle bekannt, wohin die ganze Umgegend zur Zeit des Johannistages wallfahrtet. Helmut schlug das Buch zu. Er wußte nicht, wie er sich einstellen sollte.
    Plötzlich hatte er das Gefühl, daß von jetzt an von allen Seiten ununterbrochen Angriffe zu gewärtigen seien. Es gab keine unverfängliche Minute mehr.
    Plötzlich war alles unvorhersehbar. Er konnte nicht liegen bleiben. Also, Lesen war sicher die Beschäftigung, die am wenigsten möglich war. Er mußte sich rühren. Er müßte. Wenn er könnte. Herrgott, jetzt dreh nur nicht schon am ersten Tag durch, man kann mit ganz anderen Sachen fertig werden, Notwehr, mein Gott, Notwehr. Du hast es nicht gewollt. Wenn der sein verrücktes Rodeo weitergemacht hätte, wären wir gekentert. Und das hätte keiner überlebt. Steht ja in der Zeitung, stopp-stopp-stopp, so darfst du nicht denken, gib ruhig was zu, laß ruhig dein Gewissen grasen, was heißt denn das, bitte, das Gewissen grasen lassen, wohl ein Wettbewerb in Maulhurerei, stopp, gib zu, du wirst nicht fertig damit, dein Gedächtnis bedient dich wie noch nie, von Schädelstätte keine Spur, drastisch sozusagen, du hast eben gelebt in diesem Augenblick, du bist aus dir herausgegangen, Ha-Ha, eine Sekunde lang hast du den Schein nicht geschafft, an dieser Sekunde klebst du jetzt, wirst du kleben, wenn sich der Riß dieser Sekunde nicht mehr schließen läßt.
    Er stand auf, rannte hinauf und sagte, er möchte mit Sabine einen Waldlauf machen. Sabine erschrak. Einen ganz milden. Keine sportliche Tortur. Nur ein Hauch von Dauerlauf. Dauerlauf, Sabine, kennst du das Wort. Ich liebe dieses Wort. Dauerlauf. So ganz sachte antraben. Turnschuhe. Es fehlen die Turnschuhe. Paß auf, ich gehe schnell in die Stadt und kauf uns Turnschuhe, Trainingsanzüge, Turnhosen, Turnhemden. Bitte, nicht lachen, nicht weinen, es hat alles keinen Sinn, wir müssen uns bewegen. Wenn du nicht baden willst, dann laufen wir eben. Laß uns auch einmal opportunistisch sein, Mensch. Volkslauf, Sabine. Gehst du mit in die Stadt? Wir könnten uns Fahrräder leihen. Bei Zürns. Würdest du das tun? Bitte, bitte, Sabine,
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