Ein Fall zu viel
Arztpraxis. Zumindest dann nicht, wenn sie nicht in Manhattan, auf der Kö oder einem Schickimicki-Viertel angesiedelt war. Vielleicht war das sein Sprechzimmer für die Privatpatienten? Auf jeden Fall schien der Arzt für Luxusgüter empfänglich zu sein.
»Wann genau haben Sie Ihre Sprechstundenhilfe das letzte Mal lebend gesehen?«
»Gestern Abend gegen zwanzig Uhr und zwar hier in diesem Raum.«
»Um zwanzig Uhr? Halten Sie die Praxis immer so lange auf?«
Auf Gerstenschneiders Lippen zeigte sich kurz der Anflug eines Lächelns, das sekundenschnell wieder verschwand. »Nein, üblich war das nicht. Aber ich habe mir ein paar freie Tage in Brüssel gegönnt. Ein Geburtstagsgeschenk für meine Liebste. Das war langfristig geplant. Termine gab es nicht, und für dringende Fälle war ja Frau Sölle anwesend, die auf meine Vertretung verweisen oder Rezepte ausgeben konnte.«
Pielkötter sah ihn durchdringend an.
»Wenn sie vorbestellt waren«, ergänzte Gerstenschneider schnell.
Anscheinend hat der meinen Blick missverstanden, dachte er. Die Rezepte sind mir nicht so wichtig wie die Arbeitsmoral. Wo kämen wir denn hin, wenn sich jeder einfach freinehmen würde, nur weil irgendjemand etwas zu feiern hatte?
»Aber wieso sind Sie abends doch hierhergefahren?«
»Frau Sölle hatte mir auf die Mailbox gesprochen. Sie wollte sich unbedingt mit mir treffen. Ich habe sie angerufen. Ich sollte zu ihr kommen! Stellen Sie sich das vor. Da habe ich lieber die Praxis vorgeschlagen.«
»Und dann sind Sie sofort losgestiefelt, ohne nach dem genauen Grund zu fragen«, erwiderte Pielkötter leicht ironisch.
»Selbstverständlich habe ich das getan. Aber sie wollte mir den Grund nur persönlich mitteilen. Nachdem ich diesen nun kenne, kann ich das sogar verstehen.«
»Ich bin gespannt«, bemerkte Pielkötter, während er die Miene des Arztes aufmerksam studierte.
»Frau Sölle hat mir ihre Zuneigung gestanden«, erklärte Dr. Gerstenschneider. »Bis dahin war ich ganz ahnungslos. Ihr Geständnis hat mich ziemlich entsetzt. Das können Sie mir glauben.«
»Warum gerade an diesem Tag?«
»Das liegt doch auf der Hand. Gina Halbach hat mich letzten Mittwoch nach der Sprechstunde hier abgeholt. So hat Frau Sölle zum ersten Mal von meiner Freundin erfahren. Und zwar nicht von irgendeiner. Für sie habe ich sogar meine Sprechstunde ausfallen lassen. Und das hatte ich schon vor Wochen angekündigt. Also wusste sie, dass die Sache schon länger lief.« In einer leicht theatralischen Geste schlug der Arzt die Hände vor sein Gesicht. »In gewisser Weise fühle ich mich jetzt schuldig an ihrem Tod«, fuhr er nach einigen Sekunden fort. »Gestern Abend habe ich Frau Sölle klargemacht, dass aus uns niemals etwas werden kann. Ich glaube, deshalb hat sie sich umgebracht. Aus enttäuschter Liebe. Vielleicht auch, weil sie unter diesen Umständen nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wollte. Womöglich fühlte sie sich dadurch sogar in ihrer Existenz bedroht.«
»Steht das so in ihrem Abschiedsbrief?«, fragte Pielkötter.
Der Arzt wirkte irritiert.
»Keine Ahnung, den habe ich nicht ganz gelesen. Dazu war ich einfach viel zu schockiert, als ich sie gefunden habe.«
Das nehme ich dir nicht ab, dachte Pielkötter. Allerdings bezweifelte er, dass er dem Doktor das unter die Nase reiben sollte. Bei seinem Anruf im Präsidium hatte er den Abschiedsbrief bereits erwähnt und ihm damit eine zentrale Stellung gegeben. Zudem musste er doch neugierig sein, ob sie sich tatsächlich aus verschmähter Liebe zu ihm umgebracht hatte. Abgesehen davon hörte sich die Aussage zunächst einmal glaubwürdig an. Dass sich Sprechstundenhilfen in ihren Chef verliebten, kam sicher auch häufiger vor.
Trotzdem sagte ihm sein psychologisches Gespür, dass Sandra Sölle keine Kandidatin für einen Selbstmord war. Obwohl man niemals in Menschen hineinschauen konnte, traute er ihr eine solche Verzweiflungstat einfach nicht zu. Und bei ihrem Aussehen hatten voraussichtlich genug andere Männer Schlange gestanden. Pielkötter seufzte unwillkürlich. Zum Glück zählte nicht allein sein Gespür. Dafür gab es ja Spurensicherung und Rechtsmedizin. Falls Dr. Gerstenschneider ihm einen Bären aufgebunden hatte, würde er das mit deren Hilfe herausfinden.
»Wann haben Sie die Praxis wieder verlassen?«, setzte er die Befragung fort.
»Auf die Uhr habe ich nicht geschaut. Aber ich denke, so gegen neun oder halb zehn. Es hat schon eine Weile gedauert, bis ich ihr
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