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Ein Fall für Kay Scarpetta

Ein Fall für Kay Scarpetta

Titel: Ein Fall für Kay Scarpetta
Autoren: Patricia Cornwell
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als ob das Opfer und nicht der Täter auf der Anklagebank säße, es würde jede Einzelheit ihrer Person und ihrer Lebensweise genau unter die Lupe genommen, beurteilt und in mancher Hinsicht abgeurteilt werden.
    Ein gewaltsamer Tod ist ein öffentliches Ereignis, und dies war di e Seite meines Berufs, die mich am meisten belastete. Ich tat, was ich konnte, um die Würde der Opfer zu wahren. Aber wenn die Person zu einer Nummer, einem Beweisstück, das weitergereicht wird, wurde, konnte ich nicht mehr viel tun. Die Intimität wird genauso zerstört wie das Leben.
    Marino führte mich aus der Küche heraus und ließ seinen Office Petersen weiter befragen.
    "Haben Sie schon Ihre Fotos gemacht?" fragte ich.
    "Die ID ist gerade drinnen, bestäubt alles", sagte er und meinte di e Leute von der Spurensicherung, die am Tatort arbeiteten. "Ich habe ihnen gesagt, daß sie einen großen Bogen um die Leiche machen sollen."
    Wir blieben im Korridor stehen. An den Wänden hingen mehrere hübsche Aquarelle und eine Reihe von Fotos von ihrem Mann und ihr selbst in den jeweiligen Examensklassen und ein kunstvolles Farbfoto, auf dem das junge Paar vor dem Hintergrund eines Strandes an einem verwitterten Zaun lehnte, die Hosenbeine bis über die Waden hochgekrempelt, ihre Haare vom Wind zerzaust, die Gesichter von der Sonne gerötet. Sie war hübsch gewesen, als sie noch lebte, blond, mit feinen Gesichtszügen und einem gewinnenden Lächeln. Sie war in Brown zur Schule gegangen, hatte dann in Harvard Medizin studiert. Ihr Mann hatte seine ersten Studienjahre in Harvard verbracht. Dort mußten sie sich kennengelernt haben, er war offensichtlich jünger als sie.
    Lori Petersen. Brown. Harvard. Dreißig Jahre alt. Kurz davor, ihren Lebenstraum zu erfüllen. Nach acht Jahren des Medizinstudiums. Ärztin. Alles in ein paar Minuten von einem Fremden und seinen perversen Gelüsten zerstört. Marino berührte meinen Arm.
    Ich drehte mich weg von den Fotos, da er meine Aufmerksamkeit auf die offene Tür links vor uns lenkte.
    "Hier ist er reingekommen", sagte er.
    Es war ein kleiner Raum mit einem weißen Teppichboden und blauen Tapeten an den Wänden, mit einer Toilette, einem Waschbecken und einem Wäschekorb aus Rattan. Das Fenster über der Toilette stand weit offen, ein dunkles Viereck, durch das kühle, feuchte Luft hereinwehte und die gestärkten Vorhänge bewegte. Dahinter, in der Dunkelheit, dichte Bäume und das drohende Zirpen der Zikaden.
    "Das Gitter ist herausgeschnitten worden." Marinos Gesicht war ausdruckslos, als er mich ansah. "Es lehnt an der Rückseite des Hauses. Direkt unter dem Fenster ist eine Bank. Es sieht so aus, als habe er sie hochgestellt, damit er hereinsteigen konnte."
    Meine Augen glitten über den Boden, das Waschbecken, die Oberfläche der Toilette. Ich sah weder Schmutz noch Fußabdrücke, aber von meinem Standort aus war es schwer zu beurteilen, und ich hatte nicht die Absicht, das Risiko einzugehen, irgend etwas zu berühren. "War dieses Fenster verschlossen?" fragte ich.
    "Sieht nicht so aus. Die anderen Fenster waren alle verschlossen . Schon nachgesehen. Sie hätte eigentlich besonders darum besorgt sein müssen, daß dieses hier geschlossen war. Von allen Fenstern ist es das gefährdetste, nicht weit vom Boden, auf der Rückseite, wo niemand sehen kann, was passiert. Im Gegensatz zum Schlafzimmerfenster kann der Kerl, wenn er leise ist, hier ungehört das Gitter herausschneiden, einsteigen und nach unten gehen."
    "Und die Türen? Waren die verschlossen, als der Ehemann nach Hause kam?"
    "Er sagt, sie waren es."
    "Also ist der Mörder auf demselben Weg gegangen, wie er gekommen ist", schlußfolgerte ich.
    "Sieht so aus. Ziemlich reinliches Kerlchen, finden Sie nicht?" Er hielt sich am Türrahmen des Bades fest und lehnte sich vor, ohne einzutreten. "Ich sehe nichts, als ob er irgendwie hinter sich her gewischt hätte, um keine Fußspuren auf dem Teppich oder dem Boden zurückzulassen. Es hat den ganzen Tag geregnet." Seine Augen waren leer, als sie mich ansahen. "Seine Schuhe hätten naß, vielleicht auch verdreckt sein müssen."
    Ich fragte mich, worauf Marino mit all dem hinauswollte. Man konnte ihn nur schwer durchschauen, und ich wußte nie, ob er gut spielen konnte oder ob er einfach nur langsam war. Er war genau die Art von Polizeibeamter, die ich mied, wenn ich wählen konnte - arrogant und absolut unnahbar. Er ging auf die Fünfzig zu, sein Gesicht war vom Leben gezeichnet, und lange Strähnen
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