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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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Musik höre. Alles, was ich sehe, bekommt dann eine Wahnsinnsbedeutung: eine leere Plastiktüte im Geäst eines Baumes, ein Typ, der mit seinem Laptop auf der Parkbank sitzt und in der Nase bohrt, eine Frau, die diskret versucht, ihre Brüste im BH zurechtzurücken. Ich suche mir gute Szenen zu guter Musik aus, denn schließlich bin ich auf Sendung, und alle möglichen Menschen sehen mir gerade beim Leben zu, vielleicht sogar Jan, dem ich in letzter Zeit die meisten meiner Übertragungen gewidmet habe. Mit dem richtigen Soundtrack kann selbst die Fußgängerzone in Weimar so aufregend wirken wie der Sunset Boulevard in einem MTV-Clip. Ich bin Regisseurin, Moderatorin und Hauptdarstellerin in einer Person, meine Augen sind die Kamera, und direkt vor mir ist immer noch eine zweite, falls ich etwas anmoderieren möchte und vor allem, damit Jan mich sehen kann.
    Aus einer Bäckerei zu meiner Rechten trat ein junges Paar. Sie zog ein Schokoladeneclair aus der Verpackung und hielt es ihm vor die Nase. Er schüttelte den Kopf. Sie sah ihn an und steckte, ohne den Blick von ihm abzuwenden, den Finger in das Eclair, nahm ihn wieder heraus und strich mit ihrem Sahnecremefinger an seinen Lippen entlang. Er machte erst ein erstauntes Gesicht, dann begann er zu lächeln und sie zu küssen. Ich wandte mich ab, weil ich es aufdringlich fand, anderen beim Küssen zuzusehen, aber die Szene gefiel mir gut, und ich hatte Lust, das Mädchen zu sein und mich von Jan küssen zu lassen. Auf der Straßenseite gegenüber lief ein kleiner Junge wild gestikulierend rückwärts und fiel nach wenigen Metern über das ausgestreckte Bein eines tätowierten Mannes mit Dreadlocks, der auf dem Boden saß, vor sich eine kleine Bratpfanne mit ein paar Münzen und neben sich einen Hund. Der Hund war schwarz und hatte Übergewicht und trug ein Palästinensertuch. Auf einem Stück Pappe, das an der Bratpfanne lehnte, stand: Ich wette mit Ihnen um 50 Cent, dass Sie lächeln, wenn Sie das lesen. Der Junge heulte, der Hund bellte (für mich lautlos, aber mit dramatischer Musikuntermalung), woraufhin der Mann in die Pfanne griff und dem Kind ein Geldstück hinhielt. Der Junge sah ihn schockiert an und lief davon. Etwas weiter links: Eine Frau hatte sich so ungeschickt von ihrem Platz im Straßencafé erhoben, dass ein Tisch bedrohlich ins Wanken geraten war. Der Mann vom Nebentisch ergriff eine der Tassen, bevor sie herunterfallen konnte. Sie bekam gar nichts davon mit. Wieder mal ein Held des Alltags, der ohne mein scharfes Kameraauge unentdeckt geblieben wäre.
    Ich zoomte ihn heran: Es war Gabor. Er schaute mir mitten in meine Kamera, und das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in seinen Flaschenbodenbrillengläsern.
    Ich zog die Kopfhörer aus den Ohren und stellte die Musik ab. Gabor lächelte mich an. Ich war erst ein bisschen unsicher, weil er mich beim Spielen erwischt hatte, aber dann beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass man das von außen gar nicht erkennen konnte, solange ich nicht laut vor mich hin redete.
    »Magst du dich dazusetzen?«, rief Gabor, und es klang wie eine ernst gemeinte Einladung.
    »Ich komme«, sagte ich.
    Wenigstens hatte er sich nicht in eine dieser bescheuerten Decken eingewickelt, aber ich muss gestehen, nach einer Weile wurde mir so kalt, dass ich mir eine nahm, obwohl es mir etwas peinlich war. Wir saßen lange nebeneinander, ohne etwas zu sagen, und schauten den Menschen in der Fußgängerzone zu. Ich rührte so lange in meinem Cappuccino herum, bis sich der Milchschaum wieder komplett in Milch zurückverwandelt hatte.
    »Bist du schon mal in Buchenwald gewesen, Gabor?« Eine riskante Eröffnung, aber es interessierte mich wirklich.
    »Um Himmels willen, nein.«
    »Ich auch nicht«, sagte ich. »Mami auch nicht. Aber Hannah war schon da. Sie sagt, es würde einem ganz schön an die Nieren gehen.«
    »Eben«, sagte Gabor. Er holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Klar, das sind die Leute, die im Oktober unbedingt draußen sitzen müssen. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand waren gelb vom Nikotin. Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
    »Ich brauche diese Art von Vergangenheitsbewältigung nicht«, sagte er. »Und den vielen toten Juden hilft’s genauso wenig.«
    »Aber du bist doch auch ein Jude«, sagte ich.
    »Wie kommst du denn darauf?« Gabors Augen funkelten hinter den Brillengläsern. »Weil mein Vater angeblich Jude war? Als Jude gilt man nur, wenn man eine jüdische
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