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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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vorbeigelaufen und hätte es mir überlassen, ihn zu begrüßen. Gabor sah meine Mutter an und zwinkerte nervös hinter seinen dicken Brillengläsern. Er streckte die Hand aus, überlegte es sich dann anders und griff stattdessen nach hinten zu seinem dünnen Zopf, als wollte er sich vergewissern, dass er noch an der richtigen Stelle saß. Dann ließ er den Arm wieder sinken. Er sah aus, als hätte er Angst.
    »Hallo, Marika«, sagte Gabor. Er sprach es richtig aus, auf die ungarische Art mit der Betonung auf der ersten Silbe, und dafür müsste er jetzt eigentlich was guthaben bei ihr. Die meisten Leute sagen Ma-riiii-ka und sind nur schwer davon abzubringen, denn es gab mal eine ungarische Schauspielerin, die ihnen diesen Fehler hundert Jahre lang durchgehen ließ, weil sie in Wirklichkeit von Geburt an taub war und weder sich selbst singen noch andere ihren Namen sagen hörte, jedenfalls hatte Joschi das meiner Mutter so erklärt.
    »Tag, Gabor.« Sie standen mit hängenden Armen voreinander, und offenbar hatte keiner von ihnen Lust, den anderen zu berühren. Oder genügend Mut. Als sie sich kurz nach Joschis Tod zum letzten Mal sahen, war meine Mutter ein Punk und Gabor ein Arschloch, behauptet jedenfalls meine Mutter. Ich verstehe genug von Punk, um zu wissen, dass diese beiden Eigenschaften unvereinbar sind, und es sah für mich ganz danach aus, als wollten sie genau an dieser Stelle weitermachen. Oder gleich wieder aufhören, denn es passierte nichts mehr. An den verkrampften Schultern meiner Mutter konnte ich erkennen, dass mein Entspannungszauber nicht funktioniert hatte. Ich beschloss, sichtbar zu werden, und Gabor, der hocherfreut über die Abwechslung schien, rief bei meinem Anblick: »Wie – ist das etwa meine Nichte? Du lieber Himmel, und ich habe gedacht, du wärst noch ein kleines Mädchen …«
    Ich tat ihm den Gefallen und wurde auf der Stelle ein paar Jahre jünger. »Hi, ich bin Lily«, sagte ich und gab ihm die Hand. Seine war eiskalt, und sein Lächeln wirkte so, als hätte er vorher im Zug noch geübt und wäre nicht rechtzeitig fertig geworden, obwohl der Zug so viel Verspätung hatte. Seine Zähne waren klein und überraschend weiß. Wahrscheinlich waren es nicht seine eigenen. Er roch nach Zigarettenrauch und Mathelehrer.
    »He, ich hab dir was mitgebracht«, sagte er und begann, in seiner ausgebeulten olivgrünen Umhängetasche zu wühlen. »Allerdings war mir da noch nicht klar, dass du fast schon erwachsen bist – ah, hier.« Er zog einen braunen Stoffbären hervor. »Das ist der Held unserer Abteilung«, sagte er stolz. »Er hat alle Tests mit Bravour bestanden. Maximaler Zug auf alle Gliedmaßen gleichzeitig, Dauerdruck, Extremtemperaturen, sogar die Augen sind bis zum Schluss dringeblieben, das kann man von seinen Kollegen weiß Gott nicht behaupten.«
    Ich gebe zu, mir blieb wirklich der Mund offen stehen, weil ich nichts kapierte und trotzdem wusste, dass ich seine Worte richtig verstanden hatte. Gabor hielt mir den Bären direkt vor die Nase, so dass ich gar nicht anders konnte als zuzugreifen. Maximaler Zug auf alle Gliedmaßen? Hätte Gabor nicht so zufrieden ausgesehen, hätte man annehmen müssen, dass er gerade etwas richtig Fieses gesagt hatte.
    »Könntest du das bitte wiederholen?«, fragte meine Mutter und machte ein Gesicht, als wäre sie Mitglied bei PETA oder dem Tierschutzverein und könnte jederzeit dort anrufen.
    Gabor setzte zu einer Erklärung an, aber in diesem Augenblick kam endlich Hannah angelaufen, wie immer mit flatternden Seidenschals, einem unsichtbaren Gesprächspartner und deutlicher Verspätung. Sie winkte und gestikulierte und telefonierte gleichzeitig, und als sie bei uns angekommen war, drückte sie dem verdutzten Gabor einfach ihr Mobiltelefon in die Hand und fiel ihm anschließend um den Hals. Ich hätte zu gern gewusst, wer da am anderen Ende der Leitung hing und Zeuge unserer Wiedervereinigung wurde. Falls er – oder sie – etwas dazu zu sagen hatte, ging es jedenfalls in Hannahs Begrüßung unter. »Bruderherz«, rief sie mit einer Stimme, die so laut war, dass wahrscheinlich alle Bruderherzen in Hörweite aus dem Takt gerieten, »willkommen im Kreis der Familie!« Gabor stand einfach nur da wie ein Betonpfeiler und ließ sie gewähren, und als mir bewusst wurde, dass ich den Bären auf genau dieselbe Weise von mir weghielt wie er Hannahs Telefon, stieg endlich das Kichern in mir hoch, auf das ich schon so lange gewartet hatte.
    »Könnte es
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