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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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Mutter und Hannah nur ein paar Jahre älter als ich heute. Ich bin sechzehn. Hannah und meine Mutter sind Halbschwestern. Sie waren vierzehn, als sie sich zum ersten Mal sahen, und seitdem sehen sie sich öfter. Hannah ist fünf Monate jünger als meine Mutter. Über dieses Thema ist in meiner Familie sehr viel nachgedacht worden, und Geschichten dazu gibt es haufenweise.
    Die Idee, Joschis hundertsten Geburtstag zu einem Familientreffen der besonderen Art zu machen, war von Hannah gekommen, aber ohne meine Unterstützung wäre sie garantiert am Widerstand meiner Mutter gescheitert. Das eine Problem war Buchenwald. Das andere Problem war Gabor. Bei Buchenwald hatte meine Mutter schließlich selbst eingesehen, dass es für sie an der Zeit war, endlich den Ort aufzusuchen, an dem ihr Vater inhaftiert gewesen war. Mit Gabor sah die Sache anders aus. Gabor ist auch ein Kind meines Großvaters, obwohl man bei einem über Sechzigjährigen kaum noch von einem Kind sprechen kann. Meine Mutter kannte Gabor schon immer, aber dass er ihr Halbbruder ist, erfuhr sie auch erst mit vierzehn. Seit etwa dreißig Jahren hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Es würde sicherlich aufregender klingen, wenn ich jetzt sagte, wir hätten Gabor irgendwo aus dem australischen Outback oder einer abgelegenen Wetterstation in Sibirien ausgraben müssen, aber wir fanden ihn im Adressbuch meiner Mutter. Er lebte seit mehr als drei Jahrzehnten etwa 400 Kilometer von uns entfernt, immer im selben Haus in derselben Straße mit derselben Telefonnummer, die meine Mutter Jahr für Jahr erneut in ihren Kalender eintrug, ohne jemals den Wunsch zu verspüren, ihn mal anzurufen. Sie hätten sich nichts zu sagen, war ihre Erklärung, die ich allein schon deswegen sehr verdächtig fand, weil es praktisch nichts auf der Welt gibt, wozu meine Mutter nichts zu sagen hätte. Hannah war zwar auch der Meinung, dass ein gewisses Risiko damit verbunden war, Gabor zu diesem Treffen einzuladen, aber sie bestand auf Vollzähligkeit, und da es als gesichert galt, dass die ersten beiden Kinder von Joschi in Auschwitz umgekommen waren und niemand sonst über weitere Namen, Hinweise oder konkrete Informationen verfügte, war die Runde mit Gabor komplett. Und mit mir natürlich, der einzigen Enkelin, soweit uns das bekannt war.
    Ich hatte angeboten, Gabor anzurufen, weil ich es aufregend fand, einen unbekannten Onkel mit »Hallo, hier ist deine Nichte« zu begrüßen, aber Hannah meinte, das sei ihre Sache, und sie hat es tatsächlich hingekriegt, ihn zum Kommen zu überreden. Sie sagte hinterher, es sei ein hartes Stück Arbeit gewesen. Meine Mutter behauptete, er habe garantiert Geld dafür verlangt, aber das glaube ich nicht, zumal ich sie noch keinen einzigen freundlichen Satz über Gabor habe sagen hören. Als ich Hannah nach ihrem Verhältnis zu Gabor fragte, erzählte sie mir, sie habe sich ein paar Jahre nach Joschis Tod zum ersten Mal mit ihm getroffen, und sie hätten einfach keinen Draht zueinander gekriegt. Auch das fand ich irgendwie verdächtig. Hannah ist diejenige, die sich am meisten bei unsrem Familiensudoku engagiert, und dass ausgerechnet sie eine Informationsquelle über Jahrzehnte vernachlässigte, erschien mir ziemlich unprofessionell. Es musste ja nicht gleich Liebe sein. Als ich ihr das sagte, lachte sie und meinte, sie sei gerne bereit, ihre Meinung nach all den Jahren zu ändern, aber dafür müsse sie auch einen guten Grund haben. Ich muss sagen, allmählich wurde ich sehr neugierig auf meinen Onkel.
    Unser Plan sah vor, dass wir uns am Freitag auf dem Bahnhof in Weimar treffen würden, um Gabor vom Zug abzuholen und dann gemeinsam zum Hotel zu fahren. Für Samstag stand Buchenwald auf dem Programm, und Sonntag war Joschis Geburtstag, aber wie wir den eigentlich begehen wollten, konnte sich niemand so recht vorstellen. Mein Vorschlag, einen Stern nach ihm zu benennen oder wenigstens ein Hochdruckgebiet (ich hatte mich erkundigt, die Chancen auf eins mit dem Anfangsbuchstaben J standen für Mitte Oktober gut), war gnadenlos abgeschmettert worden. Wenn es überhaupt ein Wetterphänomen gäbe, mit dem man Joschi vergleichen könne, sagte meine Mutter, dann ginge es wohl eher in Richtung Windhose. Wir ließen also den zeremoniellen Teil offen und hofften auf eine spontane Eingebung.
    Und jetzt standen wir auf dem zugigen Bahnsteig, meine Mutter und ich, und warteten, dass Gabors Zug endlich einfuhr. Die Anzeigetafel gab eine Viertelstunde
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