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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Autoren: Susann Pásztor
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Verspätung bekannt, und die Computerstimme aus dem Lautsprecher wiederholte diesen Hinweis alle paar Minuten und bat am Ende auf Deutsch um unser Verständnis und dankte auf Englisch für unsere Geduld. Ich fand den englischen Text irgendwie sympathischer, obwohl mir weder verständnisvoll noch geduldig zumute war. Meine Mutter begann die Gleise zu zählen, aus Langeweile, wie ich annahm, aber dann fragte sie mich plötzlich, ob sie mir je die Geschichte von Joschis Reise erzählt hätte, auf der er angeblich immer nur Züge nahm, die auf Gleis 5 abfuhren, egal wohin, Hauptsache Gleis 5, immer nur Gleis 5.
    »War das eine wahre Geschichte oder hatte er sie sich bloß ausgedacht?«, fragte ich.
    »Gute Frage«, antwortete meine Mutter.
    Mein Großvater war ein Geschichtenerzähler, und natürlich ist meine Mutter auch einer geworden. Ich kenne die meisten, auch wenn ich früher oft Orte
und Namen und Zeiten durcheinandergebracht habe.
Das Komische an diesen Geschichten ist, dass ausgerechnet die, von denen alle behaupten, dass sie wahr sind, so klingen, als hätte sie jemand erfunden, der nichts vom Geschichtenerzählen versteht. Gelegentlich fällt meiner Mutter eine neue alte ein, aber auch die alten alten Geschichten, mit denen ich groß wurde, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Sie wucherten und wurden immer länger und tiefer, absurder und schmerzhafter, denn meine Mutter erzählt eine Geschichte nie zweimal auf dieselbe Weise, und kein Mensch auf der Welt würde es je wagen, sie mit den Worten »Die Geschichte kenne ich schon« zu unterbrechen, es sei denn, er wäre lebensmüde oder dumm oder hätte nicht richtig aufgepasst. Am schönsten ist es, sie dabei zu beobachten: Dann leuchten ihre Augen nämlich oder werden schmal und hart, und ihre Stimme klingt voll oder schneidend, manchmal auch amüsiert oder spöttisch, und selbst wenn mir hinterher der Kopf schwirrt, weiß ich doch, dass diese Geschichten irgendwo ihren Platz in mir gefunden haben, wo sie geduldig darauf warten, dass ich sie rufe.
    Ich überlegte mir gerade, ob es okay wäre, meinen iPod rauszuholen und ein bisschen Musik zu hören, aber in diesem Moment fuhr endlich der Zug ein, und gleichzeitig wurde mir klar, wie nervös meine Mutter war. Ihr Rücken war so stocksteif, dass mir mein eigener wehzutun begann, also lockerte ich meine Muskeln und hoffte, dass es auch bei ihr wirkte. Viele Leute waren es nicht, die in Weimar aus dem Zug stiegen. Wir befanden uns etwa in der Mitte des Bahnsteigs und hatten gute Sicht nach beiden Seiten, und ich entdeckte Gabor zuerst, obwohl ich gar nicht wusste, wie er aussah. Ich kannte nur Bilder, die ihn als grinsenden Zwanzigjährigen auf dem Moped zeigten, und inzwischen war er dreimal so alt. Ich stieß meine Mutter an und deutete auf ihn, und ihr Rücken wurde noch steifer, falls das überhaupt möglich war, demnach musste er es sein.
    »Ich fasse es nicht«, flüsterte sie. »Er sieht aus wie eine Raubkopie von Joschi.«
    »Ich finde, er sieht aus wie eine Raubkopie von dir«, flüsterte ich zurück, ohne über die Folgen nachzudenken. Das war natürlich eine blöde Bemerkung, zumal Gabor eine Glatze hatte. Der obere Teil seines Schädels ragte wie nacktes Land aus einem Halbkreis langer grauer Haare hervor, die hinten von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Er trug Jeans und ein braun kariertes Hemd und darüber ein abgetragenes braunes Jackett, und auf seiner stattlichen Nase saß eine Pilotenbrille aus den Siebzigerjahren, die so aussah, als wäre sie mit ihm zusammen alt geworden. Die Brille war an den Rändern so dick wie ein Flaschenboden. Er sah aus wie ein Mathelehrer. Meine Mutter sah nicht aus wie ein Mathelehrer. Aber irgendwas an der Art, wie er mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen den Bahnsteig absuchte, war mir sehr vertraut.
    »Jetzt weiß ich’s«, sagte ich. »Ihr habt beide eine große Nase und den Erdmännchenblick.«
    »Jeder Mensch unter einsachtzig sieht aus wie ein Erdmännchen, wenn er auf dem Bahnsteig nach jemand Ausschau hält«, zischte meine Mutter empört und setzte sich in Bewegung.
    Weil ich fand, dass sie eher Rückendeckung als meine Begleitung nötig hatte, blieb ich etwa zwei, drei Meter hinter ihr. Ich zählte ihre Schritte: Beim fünften musste sie über eine Hundeleine steigen, beim neunten knickte sie ein bisschen um. Beim dreizehnten erkannte Gabor sie endlich. Gut für mich, denn noch drei Schritte mehr, und sie wäre einfach an ihm
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