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Ein dunkler Ort

Ein dunkler Ort

Titel: Ein dunkler Ort
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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thronte noch immer genauso hoch über ihnen wie vorhin, als sie durchs Tor gefahren waren. Das war eine Sinnestäuschung, das wusste sie, etwas, das mit den Windungen der Auffahrt und dem Winkel, in dem sie sich näherten, zu tun haben musste, trotzdem hatte es den Anschein, das Auto würde sich nicht von der Stelle bewegen. Das Haus schien größer zu werden und sie mit seinen riesigen grauen Armen an sich zu ziehen. Sie konnte den Blick nicht von den glühenden Fenstern abwenden, die wie hundert kleine Sonnen vor ihr tanzten. Kit schauderte, denn ein eisiger Wind streifte ihr Herz.
    »Mom«, sagte sie leise und dann etwas lauter: »Mom?«
    »Was ist denn, Schatz?« Ihre Mutter drehte sich zu ihr um.
    »Ich will hier nicht bleiben«, sagte Kit.
    »So, jetzt hör mal zu«, sagte Dan ungeduldig, »es hat keinen Zweck, das Ganze noch mal durchzukauen. Wir nehmen dich nicht mit nach Europa und damit basta. Akzeptier das, Kit. Deine Mutter und …«
    »So hab ich das doch gar nicht gemeint«, sagte Kit hektisch. »Mir ist ganz egal, wo ich abbleibe, Dan. Ich fahr wieder zurück in die Stadt und ziehe zu den Rosenblums, solange ihr weg seid. Oder ich geh auf ein anderes Internat. Es muss doch jede Menge Schulen geben, die mich nehmen würden.«
    »Was ist denn los, Schatz?«, fragte ihre Mutter besorgt. »Das Haus sieht altertümlich aus, aber eigentlich ist es doch ziemlich toll. Du wirst dich dran gewöhnen. Schneller als du denkst, wirst du dich hier genauso zu Hause fühlen wie in deiner alten Schule.«
    »Hier? Niemals!« Kit war außer sich. »Merkst du es denn nicht, Mom? Dieses Haus hat irgendwas an sich … es ist …« Sie konnte das richtige Wort nicht finden, deshalb verstummte sie, während das Haus näher und immer näher rückte und dann vor ihnen stand.
    Dan hielt, stieg aus und riss die Autotüren auf. »Da sind wir«, sagte er. »Spring raus. Wir können uns auch erst mal bei Madame Duret melden, dann hole ich das Gepäck später rein.«
    Und da wusste Kit, welches Wort sie gesucht hatte. Und dieses Wort war: böse.

ZWEI
    Die Frau, die an die Tür kam, war völlig grau. Ihr Haar sah aus wie graues Stroh, das zu einem festen Knoten hochgesteckt war, und sie hatte die scharfen kleinen Augen einer grauen Maus. Sie trug ein graues Kleid, ein ziemlich langes, und darüber eine gestärkte weiße Schürze.
    Ihr Blick flitzte von Kit zu Kits Mutter und dann zu Dan. Einen Moment lang kam es Kit so vor, als wolle sie ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen.
    »Ich bin Dan Rolland«, sagte Dan. »Das sind meine Frau und ihre Tochter Kathryn Gordy. Madame Duret erwartet uns.«
    »Am Montag.« Die graue Frau sprach mit einem so schweren Akzent, dass die Worte nur schwer zu verstehen waren. »Bis morgen, die Schule, sie öffnet nicht.«
    »Darüber sind wir uns im Klaren«, sagte Dan. »Wir haben eine Sondervereinbarung getroffen, damit Kit einen Tag früher kommen konnte. Mrs Rolland und ich verreisen morgen, wir müssen heute Abend noch an die Ostküste zurückfahren.«
    »Das ist nicht der richtige Tag«, sagte die Frau noch einmal. »Der Unterricht, er beginnt noch nicht.«
    »Lucretia!« Die Stimme, die aus der Diele hinter ihr ertönte, klang streng. »Diese Leute werden erwartet.«
    Einen Augenblick später war die Hausangestellte zur Seite getreten und Madame Duret selbst stand lächelnd in der Tür.
    Sie hat sich nicht verändert , dachte Kit. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung im Mai, als Madame in die Stadt gekommen war, um Kit und Tracy dem Aufnahmetest zu unterziehen. Damals war sie schon eine eindrucksvolle Erscheinung gewesen, aber jetzt, mit Blackwood im Hintergrund, wurde dieser Eindruck noch übertroffen.
    Madame Duret war eine große Frau von 1 Meter 80 oder mehr, mit einem olivfarbenen Teint und einem markanten Gesicht mit hohen Wangenknochen. Das wie zu einer Krone auf dem Kopf aufgetürmte volle schwarze Haar ließ sie größer erscheinen als sie war, die tiefschwarzen Brauen und die scharfe gerade Nase unterstrichen noch die Strenge ihres Gesichts. Aber ihre dunklen, tief liegenden Augen waren wohl das Beeindruckendste an ihr. Sie schaute ihr Gegenüber mit einem Blick an, der so intensiv war, dass man ihn geradezu körperlich spüren konnte.
    »Wie reizend, Sie wiederzusehen.« Madames Stimme hatten einen dunklen, eleganten Klang, nur der Anflug eines französischen Akzents war auszumachen. »Sie müssen uns verzeihen. Das Leben hier lief in dieser Woche in keiner geordneten Bahn. Es
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