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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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zwischen den zerrissenen Wolken, und ich fuhr langsam, um mir noch etwas Zeit damit zu lassen, mein Ziel zu erreichen. Man spürte die Gegenwart des Meeres zur Rechten, hinter den Villen.
    Die Tennisplätze eingangs der Stadt lagen, überragt von den Schiedsrichterstühlen, friedlich unter Laub. Die Nacht wachte über den verlassenen Straßen, den Bäumen, die allmählich kahl wurden, den Häusern und ihren unter Stroh versteckten Beeten. Ich war zurück in Horville. Für einen Augenblick hielt ich neben der Tankstelle an, als wollte ich Atem schöpfen. Nicht ein Licht in den Fenstern deutete auf einen Bewohner hin: Als Kind hatte ich mich immer gefragt, ob Horville außerhalb der Sommermonate ein Dasein hatte. Kaum hatte ich die Scheibe hochgeklappt, strömte eine kalte Brise ins Wageninnere, und vor meinen Augen begann sichalles zu drehen. Mit dem würzigen Duft nach Jod drängte sich das noch unsichtbare Meer auf.
    Ich parkte die Ente beim Bootsschuppen, schnappte meinen Rucksack, zog meinen Mantel über und machte mich auf zum Strand, unter der Brücke hindurch, die den Winterhafen der Segelboote überspannte.
    Dieses Mal schlug mir der Wind peitschend entgegen. Die Nässe steigerte die Gerüche nach Meer, Tang, Muscheln, nassem Sand. Einen Duft vergisst man nie: Benommen fand ich genau dieselbe Komposition wieder vor wie einst, samt seiner Kopfnote und seiner Untertöne. Ich ging weiter, um den Strand als Ganzes zu entdecken.
    Zu meiner Linken verjüngte sich die Sandzunge bis zur Klippe, die vom Schatten des Bunkers überragt wurde, rechts verlor sich der Strand in der Nacht; über mir erhoben sich die Stützpfeiler der Mole. Straßenlaternen warfen ihren Lichtschein auf die lange Reihe der Strandkabinen; im Mondlicht sah der vom Wind aufgehäufte Sand einförmig weiß aus, und man hörte das Wellenklatschen der Flut. Auf dem höchsten Stand war das Meer dunkel wie der Himmel, öffnete sich ins Unendliche. Ich näherte mich dem Strand dort, wo der Untergrund zu einer knirschenden Mischung aus Kieseln und Muschelschalen wurde, dann wandte ich der düsteren, feindseligen See den Rücken zu und betrachtete die Uferstraße.

 
    Nur die Farben von früher waren verblasst, übertüncht vom Grau und Weiß dieses klischeehaften Mondlichts. Dicht gedrängt standen die Häuser, schlafenden Schildwachen gleich, und reihten zum Meer hin ihre geschlossenen Fensterläden und vernagelten Türen aneinander. Die menschenleere Promenade rollte ihren Asphalt aus, Pfützen spiegelten den Schein der Straßenlaternen. Bewusst zögerte ich den Augenblick hinaus, da ich das Haus betreten würde, in dem die Mutter des besonderen Jungen mich erwartete, und nahm mir die Zeit, an den weiß gestrichenen Holzzäunen entlangzuschlendern, die die Terrassen von der Uferpromenade trennten.
    Schließlich stand ich vor der Villa. Ich erkannte sie sofort wieder: Auf meinen einsamen Abendspaziergängen war ich oft bei ihr vorbeigekommen, angezogen vom Schauspiel eleganter junger Menschen, die tranken und dabei Jazz hörten. Der Fachwerkgiebel hatte die Zeit ohne große Schäden überdauert. Durch die doppelten Vorhänge eines der Türfenster, die zur Terrasse hinausgingen, drang Licht. Keinelässige Gestalt in einem Sessel, nicht der leiseste Widerhall von Jazz, stattdessen breiteten erneut meine Zweifel ihre Schatten über die Fassade aus. Um ihnen zu entkommen, musste ich noch eine Runde drehen.
    Ich ging an der Villa vorbei, weiter bis zur klobigen und reizlosen Villa Guyfranpierre mit ihrem Bogenfenster, dem Türmchen und der Wetterfahne darüber. Noch etwas weiter entdeckte ich wieder die Villa Moderne, ganz aus Beton, mit ihren spitzen Winkeln und den großen Glasfenstern. Was war aus den Bewohnern diese Häuser geworden, den Kindern, die sich an Regentagen mit Kartenspielen wie Nain Jaune und Rommé die Zeit vertrieben? Nach meinem letzten Sommer in Horville hatte ich mit keinem von ihnen mehr Kontakt. Wie nach jedem Schuljahr hatte ich alle Verbindungen abgebrochen. Sicher waren sie als Jugendliche wie ich lieber ans sonnige Mittelmeer gefahren.
    Weiter unten, von einem mit Seevögeln geschmückten Schild überragt, befand sich noch immer die Absperrung, die den Spielplatz des Club des Goélands umgab. Die Rutschbahn in der Mitte der Einfriedung wirkte wie ein schlafendes Ungeheuer. Die Versuchung, zum Strand hinunterzugehen, war groß, doch die Zeit lief mir davon. Und bis zum Hôtel des Flots weiterzugehen, kam nicht in Frage, umso
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