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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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Fetzen
    unserer Haut an der Rinde eines Baums,
    ein Tröpfchen Tränen oder Blut am Boden in
    einem Garten. Blumen haben sich dort von
    unserem Andenken ernährt. Würde man eine
    Spur davon wiederfinden, den Beweis, dass
    wir dort waren?

 
    War ich hypnotisiert, als ich gefahren bin? Ich hatte schon mehr als hundert Kilometer hinter mir, der Kilometerzähler bestätigte es, aber ich hätte weder den Weg noch die Ortsschilder angeben können. Instinktiv hatte ich die Autobahn gemieden, um mich auf der Nationalstraße durchzuschlagen. Verlassene Dörfer folgten aufeinander, ich erkannte sie nicht.
    Die Landschaft mit der Steinbrücke und dem Sumpf voller Schilf kam mir plötzlich vertraut vor. Als ich am Horizont den dunklen Streifen eines Vorhangs aus Bäumen sah, fiel mir das obligatorische Picknick auf unserer jährlichen Reise ein: unser Sommeresszimmer! Die Prozession großer Bäume kam näher, doch als die Stelle kam, um in die Allee einzubiegen, war da plötzlich eine Leitplanke, die die Zufahrt verwehrte. Ich hatte gerade noch Zeit, die Flucht der Baumstämme zu sehen, ein schattiges Gewölbe, das sich sogleich wieder schloss und das meine Erinnerungen einsperrte.
     
    Während einer unserer letzten gemeinsamen Familienreisen hatte sich genau in diesem Augenblick der Seelenruhe ein Abgrund unter meinen Füßen aufgetan: die Ahnung einer gewaltigen Katastrophe. Und wenn alles schlagartig enden würde, wenn der Tod meiner Eltern diese Harmonie zerstören würde? Wenn mich meine einzigen Stützen verlassen, wenn diese Stimmen, die sich um mein Wohlergehen sorgten, für immer verstummen würden? Dann wäre ich plötzlich ganz allein gewesen an diesem feindlich gewordenen Ort, ich hätte endlos gerufen und als Antwort nur das Echo meiner Stimme gehört, die unter der Wölbung der hohen Bäume widerhallte.
     
    Etwa dreißig Kilometer vor Horville wurde es langsam dunkel. Ungeachtet meiner Bitten wollte nur einer der beiden Scheinwerfer meiner Ente Licht spenden. Die Strecke war mir viel kürzer vorgekommen als zu der Zeit, als ich das Voranschreiten der Zahlen auf dem kleinen Kilometerzähler beobachtete. Ich war wie im Halbschlaf gefahren. Nur ein paar wenige Augenblicke ragten aus diesem Phänomen heraus: die Fahrt durch Dörfer mit Namen, die etwas in mir anstießen und denen jetzt Industriegebiete und Supermärkte vorgelagert waren.
    Ich hielt an einer Tankstelle, um vollzutanken. Mit aufgestütztem Ellbogen stand ein junger Mann im Blaumann rauchend hinter dem Tresen, die Augen ins Leere gerichtet, ein Transistorradio neben sich. Der Widerhall eines Popkonzerts grundierte die Stille, von Zeit zu Zeit pries die Stimme eines Moderators außerordentliche Sonderangebote an.
    Nachdem ich ein Sandwich gegessen hatte, trank ich einen Kaffee und zündete mir eine Zigarette an. Der Spiegel an der Rückwand des Verkaufsraums warf das Bild eines großen, traurigen Jungen zurück, den das grelle Neonlicht noch ein wenig blasser machte. Mit jedem Schluck Kaffee, mit jedem Zug an der Zigarette beschlichen mich Fragen, die ich lieber fern von mir gehalten hätte. Was würde ich an diesem Ort tun, von dem mich mehr als zehn Jahre trennten? Ich wusste nicht, ob ich diesen sonderbaren Jugendlichen ertragen würde. Was war dieser Iannis eigentlich? Behindert, schwachsinnig, verrückt? Ich hatte keine große Vorliebe für Heranwachsende, die
anders
waren, meine Seminare an der Universität hatten keinerlei Berufung zum Lehrer oder Therapeuten in mir geweckt, im Gegenteil. Und nun würde ich den ganzen Tag mit einem von ihnen verbringen, an einem Strand, an den ich nur traurige, trübe Erinnerungen hatte! Sollte ich umkehren?   …
    Ich wurde wieder von Zweifeln geplagt, diesem schrecklichen Zweifel, der mich immer daran gehindert hatte, zur Tat zu schreiten, mich zu engagieren, mich zu entscheiden. Doch dieses Mal sollten sie mich nicht kleinkriegen. Der Kaffee mit dem Pappgeschmack war ungenießbar, es war Zeit, das Obdach der Tankstelle zu verlassen, in knapp einer halben Stunde würde ich in Horville sein. Die Nacht brach soeben an, und ich hatte das Gefühl, einen Wachposten zu verlassen, der auf einer nicht greifbaren Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit stand.

 
    Ich machte mich wieder auf in Richtung Côte de Nacre. Dieser Teil des Wegs kam mir vertrauter vor, sicher weil ich früher hier immer meine Schläfrigkeit abschüttelte, um nach dem Meer Ausschau zu halten.
    Am Himmel zeigten sich die ersten Sterne
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