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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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hindurch, drückte weder Überraschung noch Angst aus. Er drehte sich um und schmiegte sich an mich, wie immer in fötaler Stellung. Plötzlich kam er mir trotz seiner sechzehn Jahre so klein vor, so schmächtig in seinem zu kurzen Pyjama. Ein Kind, das nie geboren war, das von der Welt terrorisiert wurde wie ichvom Begehren seiner Mutter; bei mir fand Iannis Zuflucht, um dem zu entkommen, was ihn bedrohte. Ich erinnerte mich an den Augenblick, als er, beide Hände flach auf meinen Brustkorb gelegt, an meiner Brust saugte. Wäre es möglich gewesen, wäre ich jener Nacht gerne noch ein wenig weiter mit ihm in der Zeit zurückgegangen und hätte ihm einen Unterschlupf geboten, in dem er sich hätte zusammenrollen können. Ich überließ mich diesem Trugbild, und das Gefühl, Iannis in mir zu tragen, beruhigte mich, so dass ich endlich einschlief.

 
    Tag für Tag versuchte ich das Gesicht von mir fernzuhalten, das durch meine Träume geisterte, doch Nacht für Nacht bahnte es sich einen Weg in meine Erinnerung, ließ mich mit einem Finger auf dem Mund Stillschweigen schwören. Während der Junge und ich aneinandergeschmiegt im Tiefschlaf lagen, besuchte es mich noch einmal. Ich wachte in aller Frühe auf und kehrte wieder in mein Bett zurück, bestürzt darüber, dass ich in Iannis’ Zimmer Schutz gesucht hatte.
    Später, am Frühstückstisch, stieß mir der Ausdruck, den ich auf Jérômes Gesicht entdeckte, übel auf. Glücklich über seine Nacht, stellte er seine Befriedigung zur Schau und bezeugte eine erbärmliche männliche Eitelkeit. Ich erinnerte mich an einen der
Grundsätze
, die er bei unserer ersten Unterredung kundgetan hatte:
Ablehnung jeder Demütigung, insbesondere vor Dritten
, und als ich Helenas Blick begegnete, dachte ich, dass die Verhöhnung eines der Prinzipien ihres Mannes einen guten Teil zu ihrem Vergnügen beigetragen hatte.
    Was hielt mich davon ab, in meinen 2CV zu steigen und Helena weit hinter mir zu lassen, diesem Ehepaar zu entfliehen, in dessen Mitte sie mir eine so zweifelhafte Rolle zugedacht hatte? Ich hatte es nicht im Geringsten darauf angelegt, in meiner Verantwortung lag nur, dass ich diese Situation nicht durch meine Abreise beendete. Doch ich fühlte, dass mir das nicht möglich war: Iannis und meine Gespenster hielten mich in Horville fest.

 
    Um Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen, gaben Helena und Jérôme mir einen Tag frei. Ohne Beschäftigung landete ich am Strand, den eine fahle Herbstsonne kaum noch wärmte. Mit den Händen in den Taschen stapfte ich am Saum der Wellen entlang durch den Sand, fegte mit dem Fuß den Algenteppich und die zerbrochenen Muscheln zur Seite in der vergeblichen Hoffnung, eine Lunte oder einen Salzstreuer glänzen zu sehen. Vom Bunker, wo ein rostiges Kanonenrohr aufs Meer zielte, stieß ich bis zum Jardin de la Baleine vor, wo zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein Wal gestrandet war. Die Einwohner von Horville hatten beschlossen, das Skelett zu erhalten: Eine Reihe von Fotografien, die an einer Wand angebracht waren, zeigte in allen Einzelheiten, wie der Wal zerlegt worden war. Rund um das Gewächshaus, in dem der Wal thronte, stellte ein kleiner Park seine Blumenbeete zur Schau. Schwer beeindruckt von den Knochen des Riesen, waren Antoine und ich dort oft gewesen. Ich setzte mich auf eine Bank, und da ich vergessen hatte, ein Buch einzustecken, ließ ich die Ereignisse Revue passieren,die meinen Aufenthalt durcheinandergebracht hatten. Seit einem Monat kümmerte ich mich nun schon um Iannis, und ich war nicht mehr der fröstelnde Junge, der nicht wusste, welchen Weg er einschlagen solle; so schmerzhaft die Prüfungen gewesen waren, die hinter mir lagen, ich hatte nicht mehr das Gefühl, in meinem eigenen Saft zu schmoren.
    Der Nachmittag wollte nicht enden, ohne Iannis war er sinnentleert, und ich wünschte mir den nächsten Tag schnell herbei, um den tänzelnden Schatten wieder bei mir zu haben, der mich den ganzen Tag begleitete.
    Als sich der Tag neigte, kehrte ich in die Villa zurück, um mich von Jérôme zu verabschieden, der wieder nach Paris zurückkehrte. Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, drang aus dem ersten Stock Iannis’ Geschrei zu mir herunter. Seine Eltern, die vor einer Tasse Kaffee am Küchentisch saßen, sahen erschöpft aus. Statt einer Begrüßung meinte Jérôme scherzhaft:
    »Wir sind ganz und gar nicht böse, Sie wiederzusehen! Der Tag war die Hölle! Iannis war unerträglich aufgedreht, wir sind die ganze Zeit
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