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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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Spiegelbild verzerrt hatten, bevor er sie mit der Hand wegwischte.

 
    Dank welcher Intuition hatte Iannis sich den Vornamen meines Freundes merken können? Woher wusste er, wie man den Namen schreibt? Diese Fragen, die unbeantwortet blieben, begleiteten mich den ganzen Tag, so dass der Junge, der meine Gedanken zu lesen schien, immer rätselhafter für mich wurde.
    Helena schloss sich an diesem Abend zum Arbeiten im Wohnzimmer ein, ohne um meine Gefälligkeit zu bitten. Dieser Burgfriede hing sicher mit der bevorstehenden Ankunft ihres Mannes zusammen.
    Da das Wetter es zuließ, wollte ich den folgenden Nachmittag mit Iannis am Strand verbringen. Doch er hatte etwas anderes vor: Schon beim Verlassen der Villa in fieberhafter Unruhe weigerte er sich, die Treppe von der Mole hinabzusteigen, und rannte stattdessen mit den Armen rudernd ins Stadtzentrum. Dieses Mal gab er die Marschrichtung vor, und ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Er bog in die Gasse ein, in der hinter einem Bretterverschlag der Laden des weißen Priesters schlummerte, dann lief er, den Boden kaum berührend,an den geschlossenen Fensterläden der Admiralsvilla vorbei, bis wir vor die verrammelte Fassade des Kasinos gelangten. Ich fragte ihn, wohin er mich führe, doch ich wusste bereits die Antwort: Sie hatte auf der Scheibe des Kühlregals gestanden, und ich war nicht überrascht, als wir das Tor zum Hôtel des Flots erreichten. Wie er es einige Tage zuvor bei mir gesehen hatte, umfasste er die Gitterstäbe mit den Fäusten und starrte reglos in den Garten des Hotels. Ich hörte ihn denselben Refrain summen, der häufig sein Wippen begleitete, dann schlüpfte er durch den engen Schlitz, ohne dass ich Zeit gehabt hätte, ihn daran zu hindern.
    Er ging in den Garten hinein, blieb schließlich mitten auf dem alten Rasen stehen und winkte mit den Armen vor dem Gesicht. Das Unkraut reichte ihm bis zu den Knien, hinter ihm zitterten die Blätter des Holunderhains, und über der Gartenmauer überragte die Spitze des mit Dornengestrüpp bedeckten Steilhangs seinen Kopf wie ein Raubtier, das seine Beute beobachtet. Auf seine Art forderte Iannis mich auf, ihm zu folgen, doch ich blieb auf der anderen Seite des Gartentors, um ihn vergeblich zurückzurufen. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, zu ihm zu gehen, den Boden zu betreten, auf dem ich als Kind gespielt hatte; meine Angst wuchs, und alles in mir widerstrebte dem Gedanken, mich auf die Erinnerungen einzulassen, die sich nach und nach einen Weg in mein Bewusstsein bahnten. Ich schüttelte energisch den Kopf, um Iannis deutlich zu machen, dass er zurückkommen solle. Meine Entschlossenheit muss ihn überzeugt haben, denn er zwängte sich wieder durch das Tor und ließ sich an der Hand zurück zur Villa führen.
    Während mein junger Begleiter auf der Mole die Wolken betrachtete, steigerte sich sein obsessives Summen. Ich war ihm nicht gefolgt, war nicht zwischen den Flügeln des Gartentors durchgeschlüpft, um mit ihm zusammen auf das Territorium meiner Kindheit vorzudringen. Ich hatte gerade Iannis den Zugang zu meinen Erinnerungen verweigert, so wie ich mich abends Helena verweigerte.

 
    Als wir die Tür öffneten, hörte ich den Widerhall eines Gesprächs aus dem Wohnzimmer. Iannis’ Vater war da.
    Glücklich, seinen Sohn zu sehen, ging er auf ihn zu, aber Iannis schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit und schlüpfte hinaus in den Garten, um dort mit seinen Zweigen zu spielen. Er bildete Worte aus ihnen, dessen war ich mir nun sicher, und er zerstreute sie, sobald jemand näher trat. Sichtlich enttäuscht über diesen Empfang, versuchte Jérôme, sich nichts anmerken zu lassen:
    »Wie ich höre, befriedigt unser männlicher Au-pair voll und ganz die in ihn gesetzten Erwartungen!«
    Er lächelte und drückte mir dabei die Hand. Hinter seiner Schulter verpasste mir seine Gattin einen Blick, den ich nur zu gut kannte.
Voll und ganz befriedigt
, hatte Iannis’ Vater gesagt, auf Helenas Gesicht, das ein verhaltenes Lächeln erhellte, konnte ich ablesen, welchen Sinn sie dieser Formulierung gegeben hatte. Sie wandte sich an mich mit der Bitte, mich um Iannis’ Abendessen und seine Toilette zu kümmern, damit er früh zu Bett gehen konnte.
    Der Stimmung seiner Frau während der Mahlzeit nach zu schließen, freute sie sich nicht über die gute Nachricht, die Jérôme für sie mitgebracht hatte. Während ihr Mann von seinen Sorgen bei der Anwerbung seines Personals erzählte, bemerkte ich mehrmals eine
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