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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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der Veranda. Der Schreck über Hayes’ plötzliches Erscheinen wirkte lähmend auf seine abgespannten Nerven. Einen Augenblick lang war er außerstande, sich auf diese jäh anbrandende Welt, die ganz aus seinen Gedanken verschwunden war, umzustellen. Dann packte ihn die Wut.
    « Völlig unnötig, uns aufzustöbern», sagte er.
    « Unnötig?»
    « Ich habe nichts für Sie. Ich habe keinen Strich gearbeitet und jeden Cent von dem Geld ausgegeben, das Sie mir vorgestreckt haben.»
    Hayes nahm dies mit verlegener Miene zur Kenntnis, als verletzten diese Worte nicht seinen Stolz, sondern ein Zartgefühl, das Vance bei ihm nicht erwartet hätte. Er stand am Fuß der Treppe im Gras und schaute zu Vance hoch; Vance blickte auf ihn hinunter und machte keinerlei Anstalten, ihn ins Haus zu bitten.
    « Aber ich bin gar nicht geschäftlich hier …», begann Hayes.
    Vance stand noch immer breitbeinig auf der obersten Stufe.« Warum dann?», fragte er und sah, wie das gesunde Gesicht des anderen purpurrot wurde.«Wahrscheinlich finden Sie es zu früh am Tag für eine Stippvisite», fuhr Hayes fort. Er bemühte sich merklich um einen versöhnlichen, ungezwungenen Ton.«Aber ich habe zufällig erfahren, dass Sie in dieser Gegend wohnen, und da ich gerade einen Sonntagsausflug an den Hudson mache, dachte ich, Sie und Mrs Weston hätten nichts dagegen, wenn ich unterwegs kurz vorbeischaue …»
    Vance starrte ihn immer noch an.«Ist heute Sonntag?», fragte er.
    « Ja, klar.»Hayes zögerte einen Augenblick.«Tut mir leid, dass ich reingeplatzt bin. Aber hören Sie, Weston – Sie schauen schlecht aus. Kann ich etwas für Sie tun? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?»
    Vance strich sich das Haar aus der Stirn. Er merkte erst jetzt, dass er unrasiert und ungewaschen war und seine Augen wohl die fieberhaft durchwachten Nächte verrieten. Wieder sah er Hayes an, mit einem letzten Aufwallen von Verachtung und sinnlosem Zorn. Ihm lag schon eine flapsige, schlagfertige Antwort auf der Zunge, aber die Stimme blieb ihm im Hals stecken, die Muskeln seines Gesichts verzogen sich, und er brach plötzlich in Schluchzen aus. Sofort stand Hayes neben ihm. Vance drückte sich die Fäuste gegen die Augen, dann wandte er sich um, und die beiden Männer sahen einander an.
    « Laura Lou?»
    Vance nickte. Er ging ins Haus, und Hayes folgte ihm.
    « Jesus, ist das kalt hier drin!», rief Hayes halblaut.
    « Ja, ich weiß. Ich hatte Feuer gemacht, aber es ist ausgegangen. Die Frau ist nicht wiedergekommen …»
    « Welche Frau?»
    « Die Hausgehilfin. Als sie gestern Abend den Blutsturz sah, ist sie davongelaufen. Der Arzt versucht eine Krankenschwester aufzutreiben.»Beide flüsterten.
    Hayes’ rotes Gesicht war bei Vance’ Worten bleich geworden und zeigte nun die gespenstische Blässe eines vollblütigen Menschen, der alle Farbe verloren hat.«Hol der Teufel die Krankenschwester. Ich kann mich bestimmt genauso nützlich machen.»Er sprach jetzt noch leiser.«Ist es da, wo sie liegt, wärmer?»Vance nickte.«Dann bringe ich erst mal dieses Feuer hier in Gang.»Er zog den Mantel aus und sah sich um.«Gehen Sie zu ihr – ich kümmere mich um alles. Ich kenne das vom Camping. Machen Sie sich um mich keine Gedanken …»
    Vance begab sich gehorsam, wie von einem stärkeren Willen dirigiert, ins Schlafzimmer. Bis Hayes ins Haus gekommen war, hatte er nicht gemerkt, wie verzweifelt er unter seiner Einsamkeit gelitten hatte. Jetzt war ihm, als habe das Leben wieder zu seinem normalen Rhythmus gefunden, als sei die Zeit wieder im Takt und das Chaos gebannt. Er merkte, dass ihm vor Hunger, Schlaflosigkeit und Angst schwindlig war. Er schlich an Laura Lous Bett und setzte sich neben sie.
    Sie schlief immer noch; im Halbdunkel konnte er das schwache Auf und Ab ihrer Brust sehen. Er hätte ihr gern den Puls gefühlt, fürchtete aber, sie zu stören, und blieb steif und starr mit angehaltenem Atem sitzen. Draußen hörte er Hayes mit einem für einen so schweren Mann seltsam leichten Schritt umhergehen.« Er hat bestimmt seine Schuhe ausgezogen, um weniger Lärm zu machen», dachte er in einem Anflug von Dankbarkeit. Es half ihm, dass er Hayes so leise herumtappen hörte und sich fragen konnte, was er gerade tat. Es wurde alles weniger schrecklich und unwirklich, wenn man nach der gespenstischen Stille der Nacht die vertrauten Geräusche von Hausarbeit vernahm.
    Kurz darauf überlegte er, ob er Laura Lous Milch holen sollte, um sie in Reichweite zu haben, wenn sie
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