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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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ihm da vorwerfen, dass ihr Hinscheiden seine eigentlichen Lebenskräfte unberührt ließ? Es war, als hätte sich in einem Zimmer, in dem er arbeitete, eine Tür leise geöffnet und wieder geschlossen – und als er von seiner Arbeit aufsah, bemerkte er keine Veränderung. Es war jemand hinausgegangen, aber der Raum war nicht leerer als vorher …

    Er hatte seit drei, vier Tagen kein menschliches Wesen mehr gesehen. Die Hausgehilfin, die sich wegen ihrer Fahnenflucht schämte, hatte ihm angeboten, zurückzukommen und ihm zu helfen, aber er hatte abgelehnt; der Arzt hatte ihm das Versprechen abgenommen, anzurufen, wenn er etwas brauchte. Hayes hatte ihn eingeladen, bei ihm in New York zu wohnen. Vance empfand große Dankbarkeit ihnen allen gegenüber – selbst der verschreckten Hausgehilfin war er nicht böse. Aber keiner von ihnen verstand, wie dringend er allein sein wollte … Er hatte lachen müssen, als er am Tag nach dem Begräbnis Hayes und den Arzt dabei ertappte, wie sie verstohlen nach seinem Revolver suchten, als sie ihn außer Sichtweite wähnten …
    Jetzt, wo die Zeit gekommen war, Abschied zu nehmen, tat es ihm leid, dass er sich nicht entschlossen hatte, weiterhin allein in dem Häuschen zu kampieren. Es war ein milder Tag Ende März; die Luft duftete nach feuchter Erde und frischem Gras; er saß auf der Veranda, rauchte seine Pfeife und überlegte, wie wohl sein Waldsumpf in ein, zwei Wochen aussehen würde. Er befand sich im Einklang mit seinem einsamen Leben; der Gedanke an sein Buch wurde erneut lebendig, die Romanfiguren kamen wieder zum Vorschein und versammelten sich ungehindert um ihn, wie Freunde, die man wegen geheimer Sorgen verscheucht hatte und die sich jetzt an die gewohnten Plätze zurückstahlen …
    Er wurde gestört vom Geräusch einer Hupe und erhob sich ungeduldig. Wer immer ihn besuchen kam, er war unerwünscht. Er wollte schon zur Hintertür hinausschlüpfen und über einen Zaun in das Wäldchen flüchten. Aber es hupte kein zweites Mal – wahrscheinlich war es ein vorbeifahrendes Auto auf der Schnellstraße gewesen. Er setzte sich wieder, lehnte den Kopf zufrieden gegen einen Verandapfosten und starrte hinauf zu den Frühlingshimmelflecken zwischen den krummen Apfelbaumarmen. Er verlor sich in diesen himmlischen Weiten und nahm nichts Irdisches mehr wahr, bis er seinen Namen hörte; da schrak er hoch und sah Halo Tarrant in einiger Entfernung unter dem Apfelbaum stehen. Sie sah sehr blass aus, doch seine Augen, noch erfüllt vom sonnenüberstrahlten Himmel, erblickten sie wie durch einen goldenen Nebel.
    « Vance – ich habe dich gefunden!»Sie schritt rasch und ungestüm auf ihn zu, und als sie näher kam, sah er, dass das Strahlen nicht von seinen sonnengeblendeten Augen herrührte, sondern von einem inneren Licht in den ihren. Er dachte:«Komisch, dass ich gerade an diesen Wald gedacht habe – ich würde ihn ihr gern zeigen …», dann brach die Wirklichkeit über ihn herein, und er stand sprachlos da.
    Sie blickte an ihm vorbei auf das baufällige Häuschen.«Hast du dort all diese Monate gewohnt?»
    « All diese Monate, ja.»
    Ihre Augen wanderten weiter in den Hintergrund, zu dem kahlen Wald auf dem Bergrücken. Ihre Kurzsichtigkeit ließ sie das Gesicht verziehen, und die kleinen Falten um die Augen brachten sie ihm näher, machten sie wirklicher.«Es muss schön sein da drüben», sagte sie.
    « Ja, dahinter gibt es einen Wald mit einer Moorlichtung in Gold und Purpur – ich wollte, ich könnte mit dir hingehen!»
    « Ja, warum nicht?»Sie lächelte.«Ich habe dir so viel zu erzählen … Wir könnten jetzt gleich gehen, wenn es nicht zu weit ist …»
    Nachdenklich sagte er:«Für heute Nachmittag ist es zu weit. Wir müssten uns einen ganzen Tag dafür Zeit nehmen.»
    « Oh, das wäre herrlich!»Wieder blickte sie sich um.«Aber hier gefällt es mir auch.»Sie schaute ihn unsicher an:«Lebst du hier ganz allein?»
    « Ja.»
    Sie zögerte immer noch.«Darf ich reingehen und es mir ansehen?»
    Vance merkte, wie er errötete. Er wollte nicht, dass sie das schäbige, leer geräumte Häuschen sah, seine wenigen Besitztümer, die schon für die Abfahrt aufeinandergestapelt waren, und das zerwühlte Sofa, auf dem er seit Laura Lous Tod schlief.« Ach, das ist nur ein armseliges Loch. Hier draußen in der Sonne ist es viel angenehmer.»
    « Natürlich. Es ist schön hier», pflichtete sie ihm bei.«Aber ich finde gerade alles schön … Ich bin ein bisschen betrunken vom
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