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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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Lange stand er da und starrte Laura Lous leere Hülle an. Er fürchtete sich davor, sie zu berühren, die kalte Glätte ihres zur Ruhe gekommenen Fleischs zu spüren, aber vielleicht wusste sie auch, dass er da war, und nahm ihm seine Gleichgültigkeit irgendwie übel. Mit einer gewissen Anstrengung beugte er sich über sie und legte seine Hand auf ihre kalten Hände und seine Lippen auf ihre kalte Stirn.
    Hinter sich hörte er, dass Hayes sich bewegte. Er wandte sich um und sah, dass der massige Mann auf die Knie gesunken war, ein wenig vom Bett entfernt. Er hob die gefalteten Hände und fragte mit seltsam gekünstelter Stimme:«Sollen wir beten …?»Vance sagte nichts, und Hayes fuhr fort:«Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …»Er zögerte, als wisse er nicht recht weiter.«Vergib uns unsere Schuld, wie auch ich Laura Lou vergebe … O Gott, ja, ich vergebe ihr!»Er brach in ein elendes, hilfloses Schluchzen aus und barg sein Gesicht in den Händen.
    Vance war neben dem Bett stehen geblieben. Nun ging er zu Hayes und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der erhob sich verlegen und tastete nach einem Taschentuch. Vance nahm ihn an der Hand, und Seite an Seite verließen die beiden Männer das stille Zimmer.

46
    Es war Vance’ vorletzter Tag. Übermorgen würde er zu seiner Familie nach Euphoria zurückkehren.
    Für eine Weile war er noch in dem Häuschen geblieben, hatte versucht, viel zu schlafen, um seine Lethargie abzuschütteln, bevor er wieder unter Menschen ging und sich dem täglichen Trott überließ. Er hätte gern allein hier weitergelebt, den anbrechenden Frühling beobachtet, den Wald durchwandert, geschrieben, geträumt und versucht, sich wieder an das Leben zu gewöhnen. Die Einsamkeit des Hauses, die in den letzten Tagen von Laura Lous Krankheit so furchtbar für ihn gewesen war, empfand er nun, da er allein war, als beruhigend. Aber handfeste Gründe machten es ihm unmöglich, zu bleiben, und fürs Erste war es am einfachsten, wenn er zu seinen Eltern zurückfuhr.
    Allmählich legte er die Apathie ab, die ihn nach der ständigen Anspannung befallen hatte, aber noch immer hätte er nicht sagen können, wie die Tage seit Laura Lous Tod verstrichen waren. Er wusste nur, dass sich in seinem Innern eigentlich nicht viel verändert hatte. Als er sie damals von ihrer Mutter und Bunty Hayes zurückerobert und nach New York gebracht hatte, war er der Meinung gewesen, ihrer beider Leben müsse von Grund auf neu und anders werden, und hatte erst im Lauf der Zeit gemerkt, dass gar nichts anders wurde. Jetzt war es genauso: Das Leben hatte Laura Lou nicht verändern können und der Tod auch nicht. Anfangs bildete er sich ein, der Tod, dieser große Erneuerer, werde auch sein unscharfes Traumbild von ihr erneuern, sie in einer Vollkommenheit darstellen, die er irgendwie immer vermisst hatte. Aber der Tod tat nichts dergleichen. Er hinterließ nur dieses Bild einer Larve zwischen den weißen Rosen, mit dem seine Phantasie nichts anfangen konnte. Hinter dieser teilnahmslosen Maske war das Gesicht der wirklichen Laura Lou so, wie er sie gekannt hatte. Wie sollte auch der Tod den Menschen etwas geben können, was sie im Leben nie besessen hatten? Allenfalls sorgte er für Mitleid, weil sie vom Leben betrogen worden waren. Dieses Gefühl hatte er bei Laura Lou immer gehabt. Er hatte sie immer als vom Leben betrogen und unerfüllt gesehen; hatte sich oft vorgestellt, wie sie mit einem anderen Mann lebte, sogar mit Bunty Hayes; vielleicht hätte sie dann eher Gelegenheit gehabt, zu zeigen, was in ihr steckte. Aber das Schicksal hatte sie ihn wählen lassen, und trotz der Unvollkommenheit ihres gemeinsamen Lebens wusste er, dass es bis zuletzt das war, was sie sich wünschte. Um ihm das zu zeigen, brauchte es nicht den Tod. Weil er wusste, dass sie ihn gewählt hatte und, vor die Wahl gestellt, lieber mit ihm unglücklich gewesen wäre als mit einem anderen wohlhabend und zufrieden, war ihm das Band zwischen ihnen heilig. Der Tod hatte an seinem Bild von ihr nichts geändert und ihm nichts hinzugefügt. Der Tod hatte nur das Buch zugeschlagen, in dem er schon lange nicht mehr gelesen hatte …
    Anfangs erschreckten ihn diese Gedanken. Es schien, als hätte er Laura Lou nie geliebt; doch so war es nicht. Und niemals war sie ihm so lieb und teuer gewesen wie in den letzten gemeinsamen Monaten. Er hatte ernsthaft versucht, ihr alles zu geben, was sie von ihm anzunehmen vermochte – konnte man
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