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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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Landstraße südlich des Soonwaldes. Er suchte
     sich einen Landgasthof, aß ausgiebig zu Mittag und |466| fuhr dann weiter durchs Nordpfälzer Bergland Richtung Südwesten.
    Als er gegen 17   Uhr in Saarbrücken ankam, war Kamphaus noch im Büro. Marthaler rief in der Zentrale des Landeskriminalamtes an und gab sich
     als Angestellter der Stadtwerke aus. Er bat darum, dass man Herrn Kamphaus eine Nachricht überbringe: Es gebe in seiner Wohnung
     einen Wasserschaden. Er möge bitte sofort nach Hause kommen.
    Zwanzig Minuten später bog Kamphaus aufgeregt um die Straßenecke. Marthaler stand grinsend im Hauseingang und hielt zwei Flaschen
     Wein hoch.
    «Mach dich locker», sagte er zur Begrüßung. «Der Wasserschaden hat sich als Irrtum herausgestellt.»
    «Idiot!», sagte Kamphaus.
    Dann musste er lachen. «Was ist mit deinem Kopf? Ach so, ja, der Mond. Also los, komm rein.»
     
    Sie saßen lange zusammen an diesem Abend. Aber so «privat», wie sie sich vorgenommen hatten, wurde er dann doch nicht. Kamphaus
     hatte etwas Käse aufgeschnitten und ein paar trockene Laugenbrezeln auf den Tisch gestellt. Marthaler erzählte endlich die
     Geschichte, die er KD versprochen hatte.
    Später berichtete Kamphaus von seinem Ausflug nach Hotzwiller. Er hatte mit dem Bürgermeister und ein paar Dorfbewohnern gesprochen
     und erfahren, dass Marie-Louise Geissler bei der Witwe Celeste Fouchard gewohnt habe. Auf einem alten Gehöft ein wenig außerhalb
     des Ortes. Sehr gesprächig seien die Menschen im Dorf allerdings nicht gewesen. Aber alle hätten gesagt, wie schön dieses
     Mädchen sei.
    «Ich hatte den Eindruck, dass man dort einem Vertreter der deutschen Staatsmacht noch immer mit Misstrauen begegnet», sagte
     Kamphaus. «Wusstest du, dass die Deutschen ganz in der Nähe ein Lager hatten, das KZ Struthof?»
    |467| «Nein», sagte Marthaler. «Das wusste ich nicht.»
    «Einmal hat man dort mehr als hundert Menschen umgebracht, nur, weil man ihre Skelette für eine Ausstellung am Anatomischen
     Institut in Straßburg haben wollte.»
    Marthaler schwieg.
    «Aus einem Grund bedauere ich, dass sie euch entwischt ist», sagte Kamphaus. «Ich hätte sie gerne wenigstens einmal mit eigenen
     Augen gesehen.»
    Marthaler nickte. «Das kann ich verstehen», sagte er. «Aber ich glaube, das ist die Wurzel für ihr Problem: dass alle sagen,
     wie schön sie ist, dass alle sie anschauen wollen.»
    «Trotzdem», sagte Kamphaus. Er stand auf, ging in den Flur und kam kurz darauf mit einem verschnürten Bündel zurück. «Hier.
     Fast hätte ich es vergessen. Das hat mir Lieselotte Grandits heute Morgen gegeben.»
    «Die Lehrerin?»
    «Ja. Sie stand vor meiner Wohnungstür. Sie sah aus, als wäre sie kurz davor loszuheulen.»
    «Ja», sagte Marthaler, «auch in ihr habe ich mich getäuscht. Als mir klar wurde, dass sie den Brief geschrieben hat, dachte
     ich, es sei ihr nur um den Rektorenposten gegangen. Dabei war es das wohl nur zum Teil, gleichzeitig hat sie dem Mädchen auch
     wirklich helfen wollen. Und in einem schwachen Moment hat sie sich für die schlechteste Lösung entschieden. Was wollte sie?»
    «Sie hat mir das Päckchen gegeben und gesagt, es seien Aufzeichnungen von Marie-Louise Geissler. Das Mädchen habe sie seinerzeit
     gebeten, die Papiere aufzubewahren, damit sie nicht von ihrem Vater gefunden würden. Ich denke, du kannst mehr damit anfangen
     als ich. Vielleicht enthalten die Unterlagen einen Hinweis darauf, wo das Mädchen sich aufhält.»
    Marthaler nahm das Bündel an sich.
    |468| «Ja», sagte er. «Ich werde es mir bei Gelegenheit anschauen. Danke.»
    «Was hast du jetzt vor?», fragte Kamphaus.
    «Ich weiß nicht», sagte Marthaler.
    Aber das war eine Lüge.

|469| Acht
    Marthaler war müde. Er lag im Bett des Gästezimmers und versuchte zu schlafen. Das Bündel, das ihm Kamphaus gegeben hatte,
     hatte er in seine Tasche gestopft. Er hatte sich vorgenommen, es erst zu öffnen, wenn er zurück in Frankfurt war.
    Schließlich merkte er, dass seine Neugier größer war als seine Müdigkeit. Im Dunkeln tastete er nach dem Schalter und knipste
     die Nachttischlampe an. Mit dem Schweizermesser, das ihm Katharina zu ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte,
     öffnete er die Kordel, mit der die Papiere Marie-Louise Geisslers verschnürt waren. Es handelte sich um eine Reihe alter Schulhefte
     in verschiedenen Formaten. Wie Marthaler vermutet hatte, waren die Hefte gefüllt mit tagebuchähnlichen
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