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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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irgendwelchen Gründen
nicht entfernen. Er konnte seine Hand nicht im richtigen Winkel in den Mund führen, der Fremdkörper saß viel zu weit hinten, aber er versuchte alles, um mit dem Finger die Stelle zu erreichen, um das Fleisch zwischen den Zähnen hervorzukratzen. Die Übelkeit, die in ihm aufstieg, weil er die Kontrolle verlor und nichts ausrichten konnte, vereinte sich mit dem Würgereiz, ausgelöst durch den Finger, den er tief in den Rachen geschoben hatte, um die Fleischfaser endlich greifen zu können, und bewirkte, dass er sich, nun ja, ins Waschbecken übergab.
    Glücklicherweise befand sich zu dem Zeitpunkt niemand sonst auf der Toilette, und es gelang ihm, das Waschbecken zu säubern und sich den Mund auszuspülen, bevor jemand hereinkam. Schließlich blieb ihm aber nichts anderes übrig, als das Abendessen abzubrechen, nach Hause zu fahren und das Ding mit Zahnseide zu entfernen. Übelkeit und Magenkrämpfe hielten an, bis es ihm schließlich gelang.
    »In fünf Minuten wird es eh an der Wand kleben«, sagt er sich und betrachtet dabei im Spiegel sein gesträubtes Haar. Und obwohl er noch Magenkrämpfe hat, schenkt er sich ein Kopfnicken.
    »Du hast natürlich Recht.«
    Und dann kommt ihm ein anderer Gedanke.
    Er legt den Kamm beiseite und hält Ausschau nach einer Schere.
     
     
    Thomas sitzt wieder in seinem Sessel, in seinem passablen Anzug, mit gebändigtem Haar. Die Augen hält er geschlossen. Mit der rechten Hand presst er die Pistole an die Schläfe. Er atmet schwer aus, und gerade als sich der perfekte Augenblick anbahnt, die Stille zwischen zwei Atemzügen, klopft es an der Tür.

    Er öffnet die geröteten feuchten Augen. Er schluckt.
    Er ist verwirrt. Irgendwie.
    Wieso lebt er noch?
    Er legt die Pistole auf die Sessellehne.
    Er hätte nicht so lange zaudern sollen. Jetzt ist jemand gekommen. Jetzt muss er erst die Person, die vor der Tür steht, abwimmeln, bevor er es zu Ende bringen kann. Irgendwas kommt doch immer dazwischen, oder?
     
    »Wer ist da?«
    »Wie viele hast du angerufen?«
    »Drei oder vier«, sagt Thomas durch die Tür. Er entsinnt sich jetzt an die Anrufe, die er vor über einer Stunde gemacht hat, »aber du hast als Einziger abgenommen.«
    »Um es mal freundlich zu sagen«, antwortet die Stimme, »hast du ja auch zu einer aberwitzigen Zeit angerufen.«
    »Ich wusste, dass du wach bist.«
    Er steht vor der Eingangstür, schiebt den Riegel zurück, dreht den Knauf, löst die Kette und zieht die Tür auf.
    Da steht Christopher in Jeans mit Aufschlag, seinen schwarzen Bowlingschuhen und einem Bowlinghemd, wie auch Thomas es trägt – und Larry. Sein schwarzes Haar ist an den Schläfen leicht grau meliert. Seine Augen sind intensiv grün mit kleinen braunen Flecken. Sein Kiefer ist kantig und schimmert in einem blaugrünen 5-Uhr-Schatten. Oder wie spät es auch sein mag.
    »Was ist passiert?« Christopher betritt die Wohnung, ohne auf eine Aufforderung zu warten, und sieht sich um. »Ist deine Frau da?«
    »Nein«, sagt Thomas. »Sie ist verreist. Besucht ihre Schwester in Kalifornien.«
    Von Kalifornien hat er schon immer geträumt, in seinem agnostischen Weltbild ist es der Inbegriff des Himmels, und
ebendas ist auch ein Grund, warum er nie dorthin gereist ist. Er wollte sich den Traum nicht durch die Realität zerstören lassen, und er hat immer gewusst, dass es dazu gekommen wäre.
    Als er zehn Jahre alt war, 1929, hat sich seine Mutter für immer verabschiedet und ihn bei seiner Großmutter gelassen (die einsam war, seit der Große Krieg sie zur Witwe gemacht hatte). Sie gehe nach Hollywood, um Filmstar zu werden, sagte sie ihm. Während der folgenden Jahre hing Thomas ebenfalls dem Traum nach, sich nach Kalifornien aufzumachen. Einfach in einen Bus dorthin zu steigen. Er würde einen Koffer packen, zwanzig Dollar aus Großmutters Blechbüchse mit dem Notgroschen nehmen und losziehen. Seine Mutter wäre gewiss nicht schwer zu finden, denn ihr Name würde in Leuchtbuchstaben erstrahlen. Er würde zu ihr ziehen, in ihre Villa, die mit weichem weißem Teppich ausgelegt wäre, der sich unter den Füßen wie 7-Uhr-morgens-Gras anfühlte, kühl und makellos, und er würde nie mehr unter dem üblen Geruch leiden, den Großmutter ausdünstete, nie mehr ihren trockenen Husten hören, wenn sie ihren Radiosendungen lauschte, nie mehr zuschauen müssen, wie sie ihren schleimigen Auswurf ins Taschentuch rotzte und es danach zusammenfaltete, als wolle sie ihn für später
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