Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
Vom Netzwerk:
gelegt. Beide lächeln. Beide haben blaue Augen und ebenmäßige weiße Zähne. Im Hintergrund die Golden Gate Bridge im fernen San Francisco. Das Sonnenlicht vergoldet ihr Haar und ihre Gesichter. Sie sind sehr schön.
    Es gibt in der Wohnung noch mehr Bilder von den beiden. Manchmal sind sie zusammen darauf zu sehen, bei den meisten aber nicht.
    Hier steht die Frau auf einem Feld mit gelben Blumen. Dort steht das Mädchen vor dem illuminierten Eiffelturm.
    Hier sitzt die Frau mit einer Angel an der Uferböschung eines Sees. Dort fährt das Mädchen lachend und mit wehendem Haar Karussell.

    Hier steht die Frau auf einer Brücke, und hinter ihr dümpelt eine Fähre auf dem Wasser. Dort kämpft das Mädchen mit einem Hund um einen Stock.
    Thomas ist auf keinem der Fotos zu sehen. Er kann sich im Spiegel betrachten, wann immer ihm danach ist.
    Seine rechte Hand greift nach dem Knauf der Pistole, die auf seinem Schoß liegt. Es ist ein alter.45er-Colt, der einmal seinem Großvater gehört hat. Als Hauptmann der Armee hatte man ihn damit ausgerüstet, und außer dieser Waffe, einem Paar Stiefel und einer runden Hundemarke mit der Aufschrift Marlowe, William P. 688436. Cptn. U.S.A. war nichts von ihm aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt. Der.45er Colt ist eine halbautomatische Pistole, aber Thomas bezweifelt, dass er heute Abend den Abzug zweimal betätigen wird.
    Er hebt den Colt und drückt sich das gefährliche Ende an die Schläfe. Das Ende verspricht ein Nichts, und genau das ist es, was er will – ein süßes Nichts.
    Er schließt die Augen und versucht den geeigneten Moment zwischen zwei Atemzügen abzupassen, in dem er abdrücken kann, doch aus der Wohnung unter ihm ist diese verfluchte Musik zu hören, die wie ein zweiter Herzschlag, aber im falschen Rhythmus, in ihm pocht.
    Er stampft auf den Boden.
    »Kann man nicht ein Mal seine verdammte Ruhe haben?«
    Die Musik wird lauter statt leiser.
    Eine Frau lacht.
    Kurz erwägt Thomas tatsächlich, nach unten zu stürmen, die verfluchte Tür einzutreten, den Typen da unten einem nach dem anderen eine Kugel ins Hirn zu pusten und schließlich eine Salve in ihren verschissenen Plattenspieler zu jagen, um mit Freuden zu sehen, wie Holz und Vinyl auseinanderplatzen und splittern. Danach hätte er etwas
Ruhe und Frieden und könnte den entspannten Moment zwischen zwei Atemzügen finden.
    Aber vielleicht ist es nicht ihre Schuld, dass er keinen Gedanken fassen kann. Er hat den ganzen Abend noch nicht richtig denken können. Drei Spiele, und seine höchste Punktzahl war 166. Nicht gerade berauschend für einen Mann, dessen Durchschnitt bei 190 liegt.
    Aber es ist schon lange so, dass die Dinge nicht berauschend für ihn laufen.
    Er wischt sich die Augen und drückt die Mündung der Pistole wieder an seine Schläfe.
    Er denkt an das Bajonett in der Brust seines Großvaters, an einen Pappkarton mit dessen Orden, an ein leeres Paar Stiefel.
    Er schließt die Augen.
    Er zieht die Waffe von seinem Kopf zurück und legt sie wieder auf den Couchtisch. Er fragt sich, wer als Erster das Wort Couchtisch benutzt hat. Er steht auf und geht in den Flur. Er fragt sich, wer zum ersten Mal Flur zu einem Flur gesagt hat. Er fragt sich, wer überhaupt den Dingen einen Namen gegeben hat. Wie hat jemand einen Hund betrachten und dann beschließen können, wie er benannt werden soll? Es ist alles so willkürlich. Alles ist so verdammt willkürlich.
    In seinem Schlafzimmer findet Thomas einen Stapel Rechnungen auf der Frisierkommode. Er will nicht direkt auf die Rechnungen schreiben – er muss sie ja bezahlen. Also nimmt er den Umschlag, in der eine der Rechnungen gesteckt hat, und beschließt, die unbeschriebene weiße Rückseite zu benutzen.
    Dann lacht er.
    Die Rechnungen bezahlen? Wie sollte er das tun können, wenn er unter der Erde liegt?

    Trotzdem, irgendwer müsste sie ja wohl bezahlen – oder sie sich zumindest ansehen, um festzustellen, wie hoch seine Schulden waren, als er starb. Er weiß eigentlich gar nicht, wie so was läuft.
    Nachdem er ungefähr eine Minute lang die Sachen auf seiner Frisierkommode sortiert hat, findet er einen Bleistift und geht hinaus ins Wohnzimmer.
    Er betrachtet dabei den Teppich und fragt sich, wann er hier das letzte Mal gesaugt haben mochte. Unter zwei Tischen sind immer noch Staubsaugerspuren zu erkennen, aber ansonsten sind sämtliche Beweise dafür, dass jemand hier je gesaugt hat, zertrampelt worden. Pennys und Papierfetzen, nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher