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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn
Autoren: Elke Pistor
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fährt herum. Die Mutter sitzt mit hängenden Schultern in ihrem
Bett. Hastig versucht er, seinen Schatz zu verbergen.
    »Einer
wie wir wird niemals ein Gelernter werden«, sagt sie mit einem Blick auf die
Kladde und lächelt müde.
    »Ich kann
gut rechnen.«
    »Ich
weiß.« Sie schlägt die Decke zurück und steht auf. Unter ihrem weißen Nachthemd
wölbt sich ihr Bauch weit nach vorn. Ein weiterer Mitschläfer für ein paar Tage
oder Monate. Ob es Jahre werden, wagt Paul nicht zu fragen. Schon dreimal sind
die schreienden Bündel nicht aus dem Bett der Eltern bis zum Bett der Kinder
gelangt.
    Die
Mutter stemmt ihre Fäuste ins Kreuz und streckt sich. »Du bist gescheit, Paul.
Das warst du immer. Trotzdem müssen wir satt werden. Jetzt.«
    »Ich
lerne abends oder wie jetzt am Morgen, bevor ich in die Fabrik gehe.«
    »Junge.«
Der Ton der Mutter wird schärfer. »Du wirst keine Kraft haben, und wenn
doch …« Sie hebt die Hand, um den Einwand, den er auf den Lippen hat,
abzuwehren, noch ehe er ihn aussprechen kann. »Es ist uns nicht bestimmt.
Schlag es dir aus dem Kopf! Du wirst Ärger bekommen und deine Arbeit
verlieren.«
    »Aber …«
    »Kein
Aber. Stell dich an deinen Platz in der Fabrik.« Sie macht eine Pause und holt
tief Luft, bevor sie weiterspricht. »Dein Vater kann es nicht mehr.«
    Mit
den anderen Jungen drängt Paul sich durch die schmale Tür, die zur Wollkammer
führt. Schmutzig graue Ballen von Schafswolle türmen sich übereinander und
warten darauf, auseinandergezupft und von kleinen Ästen, Gräsern und Kletten
befreit zu werden, bevor sie in großen Körben zum Wolfen gebracht werden. Paul
mag diese Arbeit. Keine schnellen Spulen, die sich drehen und die ausgewechselt
werden müssen. Keine Hakenwalzen an den dicht an dicht stehenden Maschinen, die
die eigene Kleidung mit der gleichen Gier mit sich reißen wie die Wollvliese,
wenn man nicht jeden Moment achtgibt. Hier kann er seine Finger die Arbeit
allein machen lassen. Und nachdenken.
    »Wir
müssen schneller sein, sonst bekommen wir Ärger«, sagt er zu einem Jungen, den
er bisher noch nie hier gesehen hat. »Wie heißt du?«
    »Gustav.«
Der Junge lächelt ihn zaghaft an und greift in den Wollberg. Seine Finger
huschen über die Haarbüschel, ziehen, zerren und reißen, und er senkt den Kopf.
Paul erkennt den Abdruck von fünf Fingern auf Gustavs Wange. Rot und glühend
auf der blassen Haut.
    Er schaut
in Richtung des Aufsehers. »Der da versteht nicht viel Spaß.«
    Gustav
nickt.
    »Ihr seid
zum Arbeiten hier, nicht zum Reden!«, dröhnt es, und die Jungen erschrecken.
Der Aufseher steht im Türrahmen. Er muss seine Schultern beugen und den Kopf
einziehen, sonst stößt er in dem niedrigen Raum an die Decke. Eine dichte
Schicht der Wollfasern, die überall in der Luft schweben, bedeckt sein Gesicht
und verleiht ihm das Aussehen eines Tieres. »Du da.« Er zeigt auf Paul. »Nimm
den Korb und komm mit.«
    Paul
steht auf und hebt sich den halb vollen Korb auf die Schulter. Der Aufseher
wirft einen Blick hinein und schnaubt verächtlich, bevor er sich wieder zu den
anderen Jungen umdreht und sie weiter antreibt. Paul geht an ihm vorbei. Er
kennt den Weg und weiß, an welche Maschine die Wolle gebracht werden muss. Die
Maschinen faszinieren ihn. Er will die Mechanik verstehen, die Logik, nach der
sich die Walzen drehen, viel schneller, als es Menschen mit ihrer Hände Arbeit
bewerkstelligen können. Solche Maschinen zu bauen, würde ihm noch besser
gefallen, als in einem Büro zu sitzen.
    »Jetzt
halt hier nicht Maulaffen feil.« Der Aufseher schiebt ihn in Richtung der
Tische, die vor der Maschine aufgestellt sind, und zeigt auf einen leeren Platz
zwischen drei Arbeitern. Der Lärm ist ohrenbetäubend, die Luft stickig. In
einer immer gleichen Bewegung beugen sich die Männer vor und führen die
Wollbündel den rotierenden Walzen zu, darum bemüht, überall die gleiche Menge
in der gleichen Zeit aufzubringen. Wie Zähne bohren sich die Haken in die
Fasern, führen sie mit sich und übergeben sie an die nächsten Rollen, deren
Durchmesser Paul auf beinahe einen Meter schätzt. Schweigend reiht er sich ein
und greift zu. Er ist kleiner und muss sich weiter vorbeugen als seine
Kollegen. Vor und zurück. Immer weiter. Sein Rücken schmerzt, und die Muskeln in
seinen Armen brennen. Schweißtropfen rinnen in seine Augen. Er blinzelt.
    »Pass
auf, Junge!« Der Arbeiter rechts neben ihm zerrt seinen Arm zurück. Ein Ruck,
und der Ärmel seines
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