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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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In 10 Minuten ist der Hubschrauber in der Luft.
    Eine Schwester reicht Professor Rollesch das Skalpell. Der setzt mit einer sicheren Handbewegung einen etwa 25 Zentimeter langen senkrechten Schnitt in Lisa Blaus Brustkorb. Mit einem elektrischen Messer durchtrennt der Chefarzt die nächsten Hautschichten. Durch den Mundschutz dringt der scharfe Geruch verbrannter Hautzellen. Das Brustbein liegt frei, eine Säge frisst sich mit einem hohen Ton durch den unterschiedlich dicken Knochen und trennt ihn genau in der Mitte. Mit einem Gerät, das einem Schraubstock gleicht, biegen die Ärzte von beiden Seiten den Brustkorb auseinander. Danach werden die aufgebogenen Knochen mit einer Thoraxsperre fixiert und während der Chefarzt an der Kurbel dreht, öffnet sich leise knacksend der Brustkorb von Lisa Blau.
    Man kann jetzt zehn Zentimeter tief in den Körper sehen, das Herz ist im Blickfeld. Es ist eindeutig viel zu groß und wabbert bei jedem Schlag vor sich hin. In diesem Moment klingelt das Telefon.
    »Unser Hubschrauber ist gelandet«, meldet einer aus dem Team, »wir können durchstarten.«
    Der Kardiotechniker schiebt daraufhin eine Kanüle in die große Hohlvene der Patientin. Für die nächsten eineinhalb Stunden läuft hellrotes Blut durch die Schläuche der Herz-Lungen-Maschine neben dem OP-Tisch und wird über die Aorta wieder in den Körper von Lisa Blau zurückgepumpt. Ihr Kreislauf ist jetzt ausgelagert. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Wie eine dicke, tote Qualle liegt es da.
    Der Entnahmearzt, eine blaue Kühltruhe in der Hand, betritt den Operationssaal. Er öffnet den Deckel und zieht eine große, durchsichtige Plastiktüte hervor, darin schwimmt das neue Herz.
    »Hier ist euer Goldfisch«, scherzt er lächelnd, »ein kräftiges Superherz, mitten aus dem Leben!«
    Professor Rollesch grinst zurück und sieht sich das hellbraune, beinahe farblose Organ aus der Nähe an. Er nimmt die Tüte, schneidet sie über einer flachen Silberschüssel auf, sodass sich das Eiswasser über die Ränder ergießt. Das Herz liegt vor ihm. Mit vier schnellen Schnitten schneidet der Chefarzt das alte Herz heraus. Unwirklich klafft ein großes Loch im leeren Brustkorb.
    Wahnsinn, denkt er bei jeder Transplantation erneut, ein Mensch ohne Herz.
    Vorsichtig versenkt er das neue Herz in den Hohlraum und näht es mit flinken Fingern an den entscheidenden vier Schnittstellen wieder an. Gleichmäßig summt die Herz-Lungen-Maschine. Das Team ist in äußerster Anspannung, nur das klappernde Besteck ist zu hören. Wie aus dem Jenseits kommen dazwischen die Anweisungen von Rollesch: »Sauger, Tupfer, Nadel, Faden!«
     
    Nebelschwaden werden träge über den braunen Sand geblasen. Dunkelhäutige Menschen gehen ohne Eile über einen weiten Platz. Dazwischen ein Fremdkörper, eine blonde Frau, eindeutig eine Touristin, die jedem hier sofort ins Auge fällt. Unsicher folgt sie den Einheimischen, weiß nicht, wo sie sich befindet, so andersartig und fremd ist alles um sie herum. Nicht weit vor ihr schreitet eine Frau in Sandalen. Ihre Füße sind mit hennaroten Mustern bemalt, die offensichtlich kunstvoll mit der Hand aufgetragen wurden. Ihr tiefschwarzer Zopf hängt zwischen den Schulterblättern herunter. Sie trägt einen dunkelblauen Sari aus Seide, den sie fest um ihre Schulter gezogen hat. Ein Duft von Kardamom und Nelke liegt in der Luft und es riecht nach gekochter Milch. Der gemeinsame Weg zu einer Tempelanlage führt durch ein Spalier stoffüberdachter Karren mit großen Speichenrädern. Die Ladeflächen sind übersät von Nüssen, Bananen und kunstvoll aufgetürmten Orangenbergen. Von den bunten Stoffdächern hängen knallbunte Bonbonketten und Chipstüten herab. Die Händler preisen wortgewaltig ihre Waren, während die beiden Frauen die rosa getünchte Tempelmauer erreichen. In der Mitte befindet sich ein großer, geschwungener Torbogen aus schneeweißem Marmor, dessen silberbeschlagene Tore weit offen stehen. Die Frau im Sari berührt mit ihren Fingerspitzen ehrfürchtig den Rüssel einer Elefantenfigur aus schwarzem Stein. Weitere solche Figuren zieren die Seiten des Eingangsportals.
    Trotz des frühen Tages ist es bereits brütend heiß. Der Himmel wirkt übernatürlich Blau. Die Sonne bringt die Marmorornamente zum Erstrahlen, sodass die blonde Touristin unwillkürlich die Augen zusammenkneifen muss. Ein Mann mit bernsteinfarbenem Gesicht und einem großen, roten Turban fordert sie mit Handzeichen auf, die Schuhe
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