Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel
Autoren: Wimmer Wilkenloh
Vom Netzwerk:
Er wechselt die Tüte auf die andere Seite und lässt die steife Hand in die warme Manteltasche gleiten. Kurze Zeit später fühlt sie sich an, als würden tausend Nadeln auf sie einstechen.
    »Schmerz ist nur das Festhalten an einen flüchtigen Gedanken«, klingt dem Hauptkommissar die Stimme seines Meisters im Ohr. Er erinnert sich an die frühmorgendlichen Gänge von seiner Mietwohnung auf einem Schweizer Bauernhof hinüber zur Morgenmeditation. Im Winter wurde er des Öfteren von einem Schneesturm begrüßt und kam halb erfroren im kalten Tempel an, sodass er kaum den Lotussitz einnehmen konnte.
     
    »Wenn unser Geist nur rasch genug einen flüchtigen Gedanken nach dem anderen hervorbringt, verlassen wir den jetzigen Augenblick und schaffen die Illusion von Kontinuität und Substanz. Es ist wie in einem Kino, in dem die einzelnen Filmbilder rasch hintereinander abgespielt werden und uns Bewegung vorgaukeln. Auf solche Weise bauen wir die Vorstellung von einem steten Schmerz auf und haben so das Leiden in die Welt gebracht. Die Erfahrung von Leid entsteht dadurch, dass wir uns mit ihm verbinden.«
     
    Wie häufig hat Swensen ergebnislos über die Worte von Meister Rinpoche nachgesonnen, die allein mit intellektuellem Verstand nicht zu begreifen sind. Er betritt das Haus und der Blick ins Schlafzimmer bringt den erwarteten Anblick, Anna liegt noch im Tiefschlaf.
    Die hat es gut, denkt Swensen, den Arbeitsplatz direkt im eigenen Haus und die ersten Klienten kommen nie vor 10 Uhr.
    Er geht, ohne den Mantel abzulegen, in die Küche, schmiert im Stehen ein Käsebrötchen und nimmt es mit. Auf der Straße vor dem Haus parkt sein alter Polo. Die salzhaltige Luft auf Eiderstedt hat dem Lack über die Jahre bereits sichtbar zugesetzt, doch ein neuer Wagen ist im Moment nicht drin. Er steigt hastig ein, dreht die Heizung voll auf und beißt in das Brötchen. Als er kauend durch die Tempo-30-Zone in Witzwort fährt, wird es langsam etwas wärmer. Kurz vor dem Dorfrand liegt rechts die Billigtankstelle Oase, die mit reparaturbedürftigen Landfahrzeugen vollgestellt ist. Der Benzinverkauf läuft wahrscheinlich nur nebenbei mit. Nach der fünften Stufe der Ökosteuer ist der Benzinpreis in diesem Jahr ziemlich in die Höhe geschossen, steht heute bei 1,14 Euro. Swensen bezahlt zähneknirschend im Büro, das sich im Wohnhaus befindet. Danach geht es weiter über den unbeschrankten Bahnübergang bis zur B 5.
    Für den neuen Arbeitsweg braucht er jetzt zwar nur acht bis zehn Minuten länger, trotzdem ist die tägliche Fahrt noch so ungewohnt wie das neue Zusammenleben mit Anna in ihrem Haus. Immerhin hatten sie acht Jahre getrenntes Wohnen hinter sich.
    »Der Unterschied zum wirklichen Augenblick ist die Erfahrung, uns mit anderen Dingen zu verbinden«, kommentiert Meister Rinpoche seine Gedanken. Swensen grübelt nach, was der Satz ihm sagen soll. Es ist kurz nach 8 Uhr, als er den Hof der Polizeiinspektion Husum erreicht.
     
    *
     
    Ein stechender Schmerz zieht Maria Teske in den linken Arm. Gleichzeitig sticht es in der Herzgegend. Die Journalistin drückt sich erschrocken in die Lehne ihres Drehstuhls und legt eine Hand auf die linke Brust, als könne sie nach ihrer Angst greifen. Die gerade geschriebene Textzeile ihres Exposés starrt erbarmungslos vom Bildschirm ihres Computers. ›Reiß dich zusammen‹, steht da geschrieben, ›du kannst jetzt doch nicht schlapp machen.‹
    Das ist der Aberwitz pur, stellt sie verdutzt fest und kann die Tatsache, dass sie in einer persönlichen Krise steckt, nicht mehr verdrängen. Der Gedanke an ihren eigenen Tod ist ihr mittlerweile so nah auf den Leib gerückt, dass keine Woche mehr ohne eine Panikattacke vergeht. Wenn sie ehrlich ist, hat ihr Zustand bereits im letzten Jahr begonnen.
    Mit unfassbarem Glück war sie einem Mörder entkommen, der im Schlosspark drei Frauen erschossen hatte. Beinahe wäre sie an der Seite dieser Frauen mit ins Verderben gelaufen. Wie tief der Schock wirklich saß, ist ihr am Anfang gar nicht richtig bewusst geworden. Wie immer versuchte sie, mit Arbeit den unangenehmen Gefühlen beizukommen, die besonders in der Nacht über sie herfielen. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Tod eine rein berufliche Angelegenheit gewesen, den sie gelassen von außen angesehen und über den sie nur geschrieben hatte. Der Tod trifft immer nur die anderen, lautete ihre Lebensdevise bis dahin. Plötzlich hatte der Verlust der eigenen Existenz etwas erhalten, was nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher