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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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auszuziehen. Der Boden im Inneren des Tempels besteht aus einer Art Schachbrettmuster aus schwarzem und weißem Marmor. Er wird bevölkert von einer riesigen Schar zerzauster Ratten mit funkelnden Knopfäugelchen. Überall liegt verstreutes Futter und die Nager knabbern mit unbändigem Appetit an den kleinen safrangelben Reiskugeln oder fressen Getreidekörner aus unzähligen Tontöpfen. In den Ecken stehen rußschwarze Eisenschüsseln, bis zum Rand mit Milch gefüllt. Rundum auf den Rändern hocken dicht an dicht braune Felle, tunken ihre Barthaare ins süße Weiß und schlecken um die Wette. Weiter hinten, unter einem Dach, kochen mehrere Männer in riesigen Töpfen neues Futter.
     
    Seit einer Stunde schlägt das neue Herz mithilfe der Herz-Lungen-Maschine, gefüllt mit dem Blut von Lisa Blau. Langsam verändert sich die blass-weißliche Färbung, die durch die Konservierungsflüssigkeit und den Blutmangel entstanden ist, in ein gesundes Rosa und danach in ein kräftiges Rotbraun. Wartezeit, das ganze Chirurgenteam fällt, kaum dass es auf Hockern Platz genommen hat, in eine Art Halbschlaf. Nach einer viel zu kurzen Zeit holt Professor Rollesch die müde Schar an den OP-Tisch zurück.
    »Bybass zurücknehmen!«
    Langsam wird die Herz-Lungen-Maschine heruntergefahren. Eine Schrecksekunde, das neue Herz bleibt stehen.
    »Paddel! 200Joule!«
    Der Chefarzt platziert den Defibrillator. Die anderen Ärzte treten zurück.
    »Achtung!«
     
    Der bebende Ton des Tempelgongs lässt den Körper der blonden Frau vibrieren. Sie sieht, wie die Ratten blitzartig in den Löchern des Mauerwerks verschwinden. Eine Gänsehaut kriecht ihr von den Schenkeln den Rücken hinauf. Sie spürt den Blick einer Person in ihrem Nacken, die sich unmittelbar hinter ihr befinden muss. Vor lauter Angst dreht sie ruckartig den Kopf herum, doch es ist kein Mensch zu sehen. Trotzdem ist etwas hinter ihr her, eine physische Bedrohung, die ihr unmittelbar vor die Brust springt. Sie kann einen Körper fühlen, der kein Körper ist. Ihr ist, als hätte eine unsichtbare Hand ihre Schulter gepackt. Aber die Berührung kommt nicht von außen, es ist ein Griff, der sie von innen anfasst, ein Griff der aus ihrem eigenen Herzen kommt. Die blonde Frau will laut schreien.
    Im selben Moment holt ein Priester, der im Allerheiligen des Tempels steht, zu einem zweiten Schlag aus. Doch diesmal bleibt der bebende Ton aus, nur ein lautloser Schlag trifft ihren Kopf. Es knackt dumpf, als würde ihr Schädel zerspringen. Ein fürchterlicher Schmerz quillt zähflüssig wie glühende Lava aus den Ritzen ihres Bewusstseins. Sie wird in ein weißes Laken gehüllt, wird durch ein Labyrinth von engen Gassen getragen und auf einem ovalen Hügel abgelegt. Hier liegt sie neben mehreren toten Körpern auf gestapelten Holzstämmen. Eine breite Steintreppe führt zu einem halbmondförmigen Flussbecken hinunter, in dem das Wasser dunkel durch den Schein der Flammen strömt. Die Domra, Leichenverbrenner aus der Kaste der Unberührbaren, entfachen mit nackten Oberkörpern und um die Hüften gewickelten Baumwollstoffen immer neue Feuer. Flammende Holzstücke schleudern Funkenwirbel in die schwarze Nacht. Die Verstorbenen bäumen ihre Glieder ein letztes Mal in der Hitze auf. Der Gestank von kochenden Eingeweiden und verschmortem Fleisch liegt in der Luft. Ihr Körper liegt einsam in einem Kreis von lodernden Scheiterhaufen, die bereits seit Tausenden von Jahren brennen, Tag und Nacht, bis in alle Ewigkeit.
    »Ram nam satya hai« – alles ist vergänglich, rezitierten die Trauernden unentwegt das Mantra des Lebens
    Ist das alles nur ein Traum?
    Bin ich bei der Operation gestorben?
    Die taumelnden Feuerzungen vor ihren Augen verblassen. Eine kalte Dunkelheit breitet sich aus. Geisterhafte Stimmen rufen aus der Ferne. Sie hört ihren Namen, erst schwach, dann immer lauter.
     
    »Frau Blau! Wachen Sie auf! Sie haben es geschafft!«

21. Februar 2003
    Hauptkommissar Jan Swensen hat schlecht geschlafen. Er ist mehrmals in der Nacht aufgewacht. Annas Haus führt ein Eigenleben, das sich ziemlich konträr von seiner alten Wohnung in Husum verhält. Das Gebälk lässt von Zeit zu Zeit stöhnende Geräusche vernehmen, es ächzt und knackt unter der Last des Reetdachs, besonders wenn draußen ein kräftiger Wind vom Meer herüberbläst. Dazwischen ist es oft beunruhigend still, man könnte sagen totenstill. Nachts ist hier niemand unterwegs, kein Fahrzeug ist weit und breit zu hören. Erst in
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