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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
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lernen könne man bei ihm; die Kunst, Erfolg zu haben, beherrsche er wie kein anderer. »Er ist der König von Philippsburg«, sagte Herr Volkmann.
     Hans trug diese Sätze mit in die Stadt hinunter, als er endlich gehen durfte. Es war fast schon Mitternacht, die Straßen waren leer, er schwankte, hätte eigentlich singen oder tanzen müssen, denn er hatte zuviel getrunken. Wenn er jetzt in die Traubergstraße ging, in sein enges Zimmer, er würde sich verletzen in diesem schmalen Schlauch, der angefüllt war mit eckigen Möbeln, er brauchte Platz, große Räume, menschliche Stimmen, Frauen wären natürlich am besten, Schwestern von Frau Volkmann, jünger und nicht so klug, nicht so auf Niveau pochend. Sie hatte sich ja recht ausgelassen benommen, und ihre Bluse war noch tiefer ausgeschnitten gewesen als der Pullover am Vormittag, aber Anne! Und dann war sie ja eine Dame, es war sinnlos, daran zu denken, aber sie hatte ihm zu trinken gegeben, hatte ihn gezwungen, mit Anne zu tanzen, sie hatte gefährliche Gespräche inszeniert, das Licht zum Zwielicht gemacht, sie hatte ihre Bilder interpretiert, hatte sich an den Flügel gesetzt, Liszt gespielt und Rachmaninoff, daß Hans fast ertrank, jetzt war ihm bald nichts mehr peinlich, aber dann war Anne aufgestanden, hatte ihre Mutter gebeten, nicht mehr weiterzuspielen, hatte fast geschrien, dem Weinen nahe, hatte »Gute Nacht« gesagt und war hinausgelaufen. Er hatte der gnädigen Frau die Hand geküßt, hatte mit ihr zusammen Anne nachgelächelt, als wäre er ihr alter Komplice, dann war er gegangen. Die Nachtluft war verständnislos kühl, die Nachbarvillen dösten in ihren Gärten, er war froh, als er in der Stadt drunten war, in dem Viertel, wo jetzt alles noch lebendig war, wo man das Vergnügen rasch und hastig einbrachte wie eine Ernte auf einem Kornfeld, über das sich eine hagelgelbe Wolke schiebt: die Drohung des kommenden Tages peitscht in die Lokale hinein, denn der Tag beginnt schon tief in der Nacht, obwohl er doch nie mehr, nie mehr beginnen dürfte: darum Musik, laut und rasch, Blendlichter, vielfarbig, und Getränke: gegen den Tag, den neuen… Und um vier Uhr erlosch alles, um vier Uhr zogen die Mädchen ihre Hände ein, falteten ihre Gesichter zusammen, bogen ihre Münder zurück, daß kein Lächeln mehr blieb, und die Kellner bauten sich steil vor den Gästen auf, schrieben Urteile auf kleinen Blöckchen aus, reichten sie zettelweise dem ängstlich heraufstarrenden Gast hinab, und die Kapelle fror ein, daß die Instrumente augenblicks starben und auch gleich – sie wehrten sich nicht – in zerstoßenen Koffern wie Dinge beerdigt wurden.
     Draußen wartete Hans noch. Aber er erkannte niemanden mehr. Die gleißenden Uniformen des Vergnügens und die Schultern und Schenkel und überirdischen Gesichter: der eine Uhrenschlag hatte sie alle gefressen, jetzt eilten sie, unterschiedslos, in hartem Zivil, auseinander. In was für Wohnungen wohl und zu welchem Schlaf? Polizeistunde, dachte Hans und fror. Dann schleppte er seine Bleifüße mit schmerzenden Schenkeln in die Oststadt, Traubergstraße 22. Der Himmel. Rosa und grau. Dreckige Unterwäsche. Hoffentlich regnet es bald.
     Als ihm Straßenbahnen begegneten, richtete Hans sich auf, tat so, als habe er ein Ziel, weil er sich schämte, als er sah, daß die Wagen angefüllt waren mit Menschen, die dünne Aktenmappen trugen. Sie saßen einander gegenüber, nebeneinander, starre Puppen, die man eingeladen hatte, die nur vom Fahren ein bißchen schwankten. Geplagte Gesichter, die den Träumen, die sie nicht hatten austräumen dürfen, nachhingen und sie jetzt nicht mehr erreichten. Der Schaffner ruderte rücksichtslos durch sie hindurch und warb für den Tag. Hans bewunderte ihn. Fast auf Zehenspitzen ging er in der Traubergstraße auf die magere Fassade des Färberschen Häuschen zu und erschrak, als die Haustüre – er bog gerade durch die niedere Gartentür, hatte noch die zwei Meter Vorgarten zu passieren bis zur Treppe – aufging und der Mann herauskam, dem er vorgestern abend noch vorgestellt worden war, Herr Färber mit runder Nickelbrille, falschen Zähnen, eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen, die jetzt auf Hans herabschauten. Hans wollte etwas sagen, wußte nicht was, wäre lieber auf die Straße gerannt, hätte sein Zimmer und seine paar Habseligkeiten gerne ein für allemal im Stich gelassen, aber nicht einmal weglaufen konnte er, Herrn Färbers Blicke nagelten ihn auf die Steinplatten
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