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Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)

Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)

Titel: Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)
Autoren: Marliese Arold
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gesunden Menschenverstand (wie ihr wahrscheinlich schon erraten habt, handelte es sich bei ihr um die sehr weise Frau, von der bereits die Rede war). Ihre treffenden Weisheiten erinnerten ein wenig an die Sprüche, die man in den Glückskeksen eines chinesischen Restaurants findet – obwohl ihr euch sicher sein könnt, dass weder Agatha Swanburne noch Penelope Lumley je einen Fuß in ein solches Etablissement gesetzt hatten.
    Miss Lumley war überzeugt, dass Agatha Swanburne keine hysterischen Anfälle bekommen würde, nur weil sie mit all ihren bescheidenen Habseligkeiten allein auf einem Bahnsteig in einer fremden Stadt stand und sich wünschte, sie hätte nie ihre geliebte Schule verlassen müssen, um sich in der Welt zu behaupten. Es war nicht zu ändern: Penelope Lumley hatte ihren Abschluss gemacht (übrigens ein Jahr früher und als Klassenbeste) und somit musste sie das Institut verlassen, weil »ein anhaltender Strom kluger Mädchen aus armen Verhältnissen darauf wartet, dass ein Platz frei wird«. So hatte Miss Charlotte Mortimer, die freundliche Schulleiterin von Swanburne, die Situation erklärt.
    »Das Leben eines Menschen kann sich innerhalb von zwei Tagen wirklich enorm verändern«, dachte Miss Lumley. Doch sie ermahnte sich, dass Agatha Swanburne keinen Augenblick darauf verschwendet hätte, sich um Dinge zu sorgen, die sich nicht ändern ließen oder um Ereignisse, die noch nicht eingetreten waren, oder um Sonstiges, bei dem es aus anderen Gründen nichts brachte, sich länger damit aufzuhalten. Ebenso wenig würde Agatha Swanburne sich selbst die eigene Hand fest drücken, die Augen schließen und sich einen Moment lang vorgaukeln, Miss Mortimer würde ihre Hand halten. Sie würde auch nicht glauben, dass wenn sie die Augen wieder öffnete, sie wieder in einer bekannten Umgebung wäre, umringt von vertrauten Menschen, und alles in ihrem Leben würde so bleiben, wie es immer war. Nein, Agatha Swanburne würde sich seelenruhig auf ihren Schrankkoffer setzen und darauf warten, dass die Kutsche sie abholen und nach Ashton Place bringen würde. Möglicherweise würde sie einen Band mit ihren Lieblingsgedichten hervorholen, um sich die Zeit zu vertreiben.
    Und genau das tat Miss Penelope Lumley jetzt ebenfalls. Sie mochte vielleicht jung sein und allein an einem fremden Ort, ohne ein wirkliches Zuhause, in das sie zurückkehren konnte, und auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle, aber sie war eben auch sehr viel mehr als die gegebenen Umstände erahnen ließen: Sie war ein Swanburne-Mädchen, durch und durch.
     
    EINER VON AGATHA SWANBURNES LEITSÄTZEN, den Penelope oft gehört hatte (von jetzt an dürft ihr Miss Lumley einfach Penelope nennen, denn schließlich habt ihr mittlerweile ihre Bekanntschaft gemacht), lautete: »Alle Bücher werden nach ihrem Einband beurteilt, bis man sie gelesen hat.«
    Penelope hatte bis jetzt nie die wahre Bedeutung dieses Spruches verstanden. Aber stellt euch einmal Folgendes vor: Ein gelehrt wirkendes Mädchen von fünfzehn Jahren, das brav gekleidet auf einem großen, verschrammten Schrankkoffer kauert und in dem zerlesenen Gedichtband eines unbekannten Dichters liest – welches Bild würde besser der Vorstellung entsprechen, die sich ein verständiger Mensch von einer jungen Gouvernante macht?
    Penelope war, wie man heutzutage sagen würde, die perfekte Besetzung für diese Rolle. Zweifelsohne benötigte der Kutscher von Ashton Place deshalb nur einen kurzen Augenblick, um sie auf dem Bahnsteig zu erkennen. Trotz ihrer Jugend sprach er sie mit all der Ehrerbietung an, die einer ausgebildeten Erzieherin gebührte. Und über das beängstigende Gewicht ihres Schrankkoffers verlor er kein Wort der Klage.
    »Voller Bücher, nehm ich an, was?«, ächzte er, als er den Koffer in die Kutsche wuchtete. Dann hielt er Penelope die Tür zum Einsteigen auf. Sie zögerte.
    »Dürfte ich mich während der Fahrt neben Sie auf den Kutschbock setzen?«, fragte sie. »Das Wetter ist so herrlich und ich bin neugierig darauf, die Stadt Ashton kennenzulernen, für den Fall, dass man mich bittet, zu bleiben«, fügte sie hinzu. Sie hoffte, dass in dem gewählten Tonfall die angemessene Bescheidenheit mitschwang. Swanburne-Mädchen wurden ermutigt, selbstbewusst und forsch aufzutreten. Aber Miss Mortimer hatte Penelope auch geraten, etwas Zurückhaltung an den Tag zu legen, wenn sie auf unbekannte Menschen traf – »nur bis man sich etwas näher kennt«, hatte Miss
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