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Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)

Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)

Titel: Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)
Autoren: Marliese Arold
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aus dem Zimmer laufen?
    Ihr seht, ängstliche Befürchtungen sind eine Vollzeitbeschäftigung, und noch dazu eine sehr ermüdende. Das erklärt vielleicht, warum Miss Lumley, obwohl ihr die Hauptstadt von Norwegen nicht einfiel und obwohl sie sich nicht im Sitz zurücklehnen wollte, damit ihr Haar nicht durcheinandergeriet, schließlich dem einschläfernden Schaukeln und Rumpeln des Zuges erlag. Zumindest vorläufig machte sie sich überhaupt keine Sorgen mehr, denn sie war tief und fest eingeschlafen.
    Genauer gesagt, war sie in einen Traum versunken, der sie in längst vergangene Zeiten trug, einen Traum, angefüllt mit Lachen und Schwarzwälder Kirschtorte und sonnengesprenkelten Wiesen, untermalt vom Zwitschern bezaubernder Vögel …
    »Miss? Miss?« Der Schaffner war neben ihr auf dem Gang stehen geblieben und sprach etwas lauter als gewöhnlich, um das durchdringende Kreischen der Zugbremsen zu übertönen.
    »Sind das die Räuber?«, rief Miss Lumley im Halbschlaf aus. »Dann werde ich kämpfen, auch wenn ich unbewaffnet bin!«
    »Miss, da sind keine Räuber.« Der Schaffner wirkte ziemlich verlegen. »Verzeihen Sie die Störung, aber wir erreichen den Bahnhof von Ashton. Darf ich Ihnen beim Ausladen des Gepäcks behilflich sein?«
    Wie eine sehr weise Frau (von der wir bald mehr hören sollen) einmal sagte: »Es gibt keinen besseren Wecker als eine peinliche Situation.« Und so war Miss Lumley, bereits als der Schaffner das Wort »Gepäck« aussprach, sehr viel wacher, als ihr lieb war. Hatte sie da gerade wirklich von Räubern gesprochen? Sie hatte öfter beobachtet, wie Katzen ungeschickt von Fenstersimsen geplumpst waren und dann einfach davonmarschierten, als sei ihnen das würdelose Missgeschick nie widerfahren. Miss Lumley erkannte, dass es das Klügste war, sich genau wie die Katzen zu verhalten: Am besten erwähnte sie die Räuber nie mehr.
    »Es sei Ihnen verziehen«, antwortete Miss Lumley, während sie aufstand. »Und ja, Sie dürfen.« Sie folgte dem Schaffner schwankend den Gang entlang, während der Zug schlingernd zum Stehen kam. Das frisch geschrubbte Gesicht des jungen Mannes lief puterrot an, als er ihren Schrankkoffer und die Reisetasche auf den Bahnsteig hievte.
    »Entschuldigen Sie nochmals, Miss!« Er streckte die Hand aus, um ihr beim Herabsteigen der steilen Metallstufen zu helfen. »Ich wollte nur nicht, dass Sie Ihre Haltestelle verpassen …«
    »Und wie Sie sehen, habe ich sie nicht verpasst.« Sie nickte ihm zum Dank zu und schüttelte dann den Kopf, als wollte sie sagen: »Wie lächerlich, miau! Zu denken, ich würde so weit reisen, nur um dann meine Haltestelle zu verpassen, miau, miau! « Aber zu guter Letzt schenkte sie ihm ein winziges Lächeln. Und das genügte, um den jungen Mann vor Stolz anschwellen zu lassen, dass er an diesem Tag einen so guten Service geleistet hatte.
    Tatsächlich sollten bald schon seine Vorgesetzten darauf aufmerksam werden, wie tüchtig und hingebungsvoll der junge Schaffner seine Arbeit erledigte. Und sie würden keine Zeit verlieren, dem fähigen Burschen eine Beförderung anzubieten. Im Laufe der kommenden Jahre würde er sich hocharbeiten und schließlich als Cheflokomotivingenieur zu bescheidenem Wohlstand gelangen und sich bei allen, die ihn kennen, großer Beliebtheit erfreuen.
    Aber das glückliche Ende seiner Geschichte lag wie so vieles noch in ferner Zukunft. Jetzt blickte der junge Schaffner erst einmal durch das Fenster des abfahrenden Zuges. Er sah, wie die rasch kleiner werdende Miss Lumley regungslos inmitten der großen Dampfwolken stand, während das hohe, durchdringende Kreischen der Räder mit dem wehmütigen Tenor der Zugpfeife und dem tiefen Bass des dröhnenden Dampfantriebs einen Chor bildete. Wie der Schaffner konnte auch Miss Lumley zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehen, ob ihr Leben einen glücklichen oder einen anderen, weniger wünschenswerten Verlauf nehmen würde.
    Doch zum Glück wusste sie Besseres zu tun, als sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Obwohl sie erst fünfzehn Jahre alt war, hatte sie vor Kurzem ihre Abschlussprüfungen am Swanburne-Institut für kluge Mädchen aus armen Verhältnissen abgelegt. Während der Jahre, die Miss Lumley an der angesehenen Schule verbracht hatte, war sie in zahlreichen wissenschaftlichen und philosophischen Dingen unterrichtet worden. Im Mittelpunkt ihrer Ausbildung standen die weisen Sprüche der Schulgründerin Agatha Swanburne, einer Frau mit einem einmaligen
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