Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition)
Autoren: Gabrielle Zevin
Vom Netzwerk:
Jacks. Und du, mein lieber Cousin, sitzt die nächsten fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis. Ich persönlich habe mich in meinem ganzen Leben nicht sicherer gefühlt. Ruf hier also bitte nicht mehr an«, sagte ich. Als ich auflegte, meinte ich zu hören, dass er irgendwas über meinen Vater sagte, aber ich konnte es nicht recht ausmachen. Wahrscheinlich hätte er alles gesagt.
    Im Wohnzimmer warteten Imogen und Natty auf mich. »Was wollte Win?«, fragte Natty mit fröhlichen, tanzenden Augen. Sie war immer noch so romantisch.
    Ich schaute sie an. Ich konnte sie nicht davor beschützen. »Das war nicht Win. Es war Jacks.«
    Imogen erhob sich von der Couch. »Anya, das tut mir leid. Er hat gesagt, er wäre Win, und ich kenne Wins Stimme wohl nicht gut genug, um den Unterschied zu bemerken.«
    Ich versicherte ihr, das sei nicht ihre Schuld gewesen.
    Natty schüttelte den Kopf. »Das war total gemein von ihm. Was hat er denn gesagt?«
    Ich wollte nicht wiederholen, was Jacks gesagt hatte, nämlich dass wir beide in furchtbarer Gefahr wären. Daher setzte ich mich neben Natty und legte die Arme um sie. Ich würde alles tun, um sie zu schützen, und ich fragte mich, wie ich mir überhaupt hatte gestatten können, um Win zu trauern. Natty war die große Liebe meines Lebens, nicht er. In dem Augenblick löste sich die große Liebe meines Lebens aus meiner Umarmung – wurde sie langsam zu alt für so was? – und wiederholte ihre Frage: »Was hat Jacks denn gesagt?«
    Jetzt antwortete ich doch mit einer hübschen Lüge: »Er hat mich zu Hause begrüßt.«



II. Ich übe mich in Dankbarkeit
    Am Sonntagmorgen gingen Natty und ich zur Kirche. Der neue Priester predigte unglaublich langweilig, aber das Thema des Gottesdienstes war für mich nicht uninteressant: Es ging darum, dass wir uns zu sehr auf die Dinge konzentrieren, die wir nicht haben, anstatt auf das, was wir tun. Das traf sicherlich auch auf mich zu. Um mir die Zeit zu vertreiben, erstellte ich eine Liste der Dinge, für die ich dankbar war:
     
    1 ) Ich hatte Liberty hinter mich gebracht.
    2 ) Natty und Leo waren, soweit ich wusste, in Sicherheit.
    3 ) Win hatte es mir leichtgemacht, mich an das Abkommen mit seinem Vater zu halten.
    4 ) Wir hatten Geld und waren gesund.
    5 ) Wir hatten Imogen Goodfellow, Simon Green und Mr. Kipling … .
     
    Als ich zu Punkt  6 kommen wollte, musste ich zum Altar, um die Hostie zu empfangen.
    Später, als wir die Kirche verließen, rief jemand meinen Namen. Ich drehte mich um: Es war Mickey Balanchine mit seiner Frau Sophia. »Hallo, Cousinen!«, grüßte er Natty und mich warmherzig und küsste uns beide auf die Wangen.
    »Seit wann gehst du denn zu dieser Kirche?«, fragte ich Mickey, den ich noch nie dort gesehen hatte. Natty und ich gehörten zu dieser katholischen Gemeinde, weil unsere Mutter dort Mitglied gewesen war, aber alle Angehörigen meines Vaters besuchten, wenn überhaupt, eine russisch-orthodoxe Kirche.
    »Seitdem er eine katholische Frau geheiratet hat«, erwiderte Sophia Balanchine mit ihrem sonderbaren Akzent. Zwar sprach sie sehr gut Englisch, doch man merkte, dass es nicht ihre Muttersprache war. »Guten Morgen, Anya, Nataliya. Wir haben uns bei unserer Hochzeit schon kennengelernt, aber nur kurz. Schön, euch beide so gesund zu sehen.« Auch sie küsste uns auf die Wangen. »Schwer zu sagen, welche von euch beiden älter ist.«
    Mickey wies mit dem Finger auf mich. »Du solltest doch zu mir kommen, sobald du draußen bist.«
    Ich erklärte, dass ich erst seit Freitagnachmittag entlassen war und vorgehabt hatte, ihn in der nächsten Woche aufzusuchen.
    »Mickey, du musst dem Mädchen etwas Freiraum geben«, sagte Sophia und tat dann genau das Gegenteil, indem sie sich bei Natty und mir unterhakte und darauf bestand, dass wir zum Mittagessen zu ihnen kamen. »Ihr habt noch nichts gegessen«, mahnte sie, »und wir wohnen nur wenige Häuserblocks entfernt. Es ist besser, wenn wir auf der großen Treppe vor der Kathedrale nicht so viele Blicke auf uns lenken.« Sie war keine Russin, aber etwas an ihr erinnerte mich an Nana. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um Sophia Balanchine genauer zu betrachten. Ich weiß noch, dass ich sie auf der Hochzeit für schlicht gehalten hatte, aber vielleicht war dieses Urteil zu streng gewesen. Sie hatte braunes Haar, braune Augen und ein großes Gebiss, das entfernt an ein Pferd erinnerte. Zudem war sie einige Zentimeter größer als ihr Mann. Mickey war so klein, dass ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher