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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition)
Autoren: Gabrielle Zevin
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immer vermutete, er trüge Schuhe mit Einlagen. Sophia Balanchine war eindrucksvoll. Irgendwie mochte ich meinen Cousin ein wenig lieber, nun, da ich wusste, mit was für einer Frau er verheiratet war.
    Obwohl Natty und ich zögerten, bestand Sophia darauf, dass wir zu ihr zum Brunch kamen, und ehe wir uns versahen, befanden wir uns in ihrem Haus auf der East 57 th Street, unweit von Wins Wohnung.
    Sophia und Mickey bewohnten die unteren zwei Etagen eines typischen New Yorker Brownstone-Hauses mit drei Stockwerken. Im obersten Stockwerk war Mickeys Vater, Yuri Balanchine, mit seinen Krankenschwestern untergebracht. Sie rechneten jeden Tag damit, dass Yuri starb, erklärte Sophia mir. »Das wird eine Erlösung sein«, sagte sie.
    »Ja, das wird es«, stimmte Natty ihr zu. Sie dachte bestimmt an Nana.
    Beim Essen sprachen wir über unverfängliche Themen. Ich erfuhr, woher Sophias ungewöhnlicher Akzent stammte – sie hatte einen deutschen Vater und eine mexikanische Mutter. Mickey und Sophia erkundigten sich nach meinen Plänen für das kommende Schuljahr. Ich erwiderte, ich wisse nicht genau, was ich tun solle. Am nächsten Tag brach die dritte Woche des Halbjahrs an, und ich hatte Angst, dass ich keine passende Schule finden würde, die mich ebenfalls als passend erachtete. Angesichts meiner Vorstrafe, meine ich.
    Natty seufzte. »Wenn du doch einfach wieder nach Trinity kommen könntest.«
    In gewisser Weise war ich froh, nicht nach Trinity zurückzukehren. So hatte ich Gelegenheit, alte Gewohnheiten und Freundschaften auf den Prüfstand zu stellen. Zumindest redete ich mir das ein.
    »Nach all dem, was du durchgemacht hast, ist es gut, etwas anderes auszuprobieren, finde ich«, sagte Sophia und sprach damit aus, was ich selbst gedacht hatte. »Auch wenn es schwierig ist, sich im letzten Schuljahr noch mal auf ein neues Umfeld einzustellen.«
    »Das ist eine Unverschämtheit«, sagte Mickey. »Diese miesen Leute hatten keinen Grund, dich rauszuwerfen.«
    Da irrte er sich. Der Schulaufsichtsrat hatte einen sehr einleuchtenden Grund gehabt – ich war mit einer Waffe in die Schule gegangen.
    Dann kam das Gespräch auf Nattys Aufenthalt im Hochbegabten-Lager, ein Thema, über das ich selbst erst sehr wenig gehört hatte. Den Sommer über hatte sie an einem Projekt gearbeitet, bei dem Müll vor der Entsorgung Feuchtigkeit entzogen wurde. Als Natty das Projekt beschrieb, wirkte sie beeindruckend klug und rundum glücklich, und auf einmal wusste ich, dass es richtig von mir gewesen war, alles daranzusetzen, dass sie am Sommerlager hatte teilnehmen können. Ich war stolz darauf, dass sie meine Schwester war, und auch ein wenig stolz, mich ihr gegenüber anständig verhalten zu haben. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich stand auf und bot an, den Tisch abzuräumen.
    Sophia folgte mir in die Küche. Sie zeigte mir, wo ich das Geschirr abstellen konnte, dann stupste sie mich am Ellenbogen an. »Wir beide haben einen gemeinsamen Freund«, sagte sie.
    Ich schaute sie an. »Ja?«
    »Ja, sicher: Yuji Ono«, erwiderte sie. »Vielleicht wusstest du nicht, dass er und ich auf dieselbe internationale Highschool in Belgien gegangen sind. Yuji ist mein ältester und engster Freund.«
    Das leuchtete ein. Die beiden waren gleich alt, dreiundzwanzig, und tatsächlich hatten sie eine ähnliche Sprechweise. Das musste auch der eigentliche Grund sein, warum Yuji auf der Hochzeit gewesen war, nicht um meine Familie im Auge zu behalten. Ich fragte mich, wie viel Sophia über die Rolle wusste, die ihr ältester und engster Freund bei Leos Flucht gespielt hatte. Bei dem Gedanken daran wurde mir unwohl. »Es war Yuji«, fuhr sie fort, »der mich mit meinem Mann bekannt gemacht hat.«
    Das hatte ich nicht gewusst.
    »Er hat mir gesagt, falls ich dich sehen würde, sollte ich dich grüßen.«
    War unser Treffen in der Kirche etwa kein Zufall gewesen? »Aber du wusstest doch nicht, dass du mich heute sehen würdest, oder?«, fragte ich nach einer Pause.
    »Ich wusste nur, dass ich dich irgendwann sehen würde«, gab Sophia ohne Zögern zurück. »Mein Mann hat dich doch in Liberty besucht, oder?«
    Wer war diese Sophia Balanchine überhaupt? Ich versuchte, mich an ihren Mädchennamen zu erinnern. Bitter. Sophia Bitter. Ich wünschte mir, Nana würde noch leben, um mich mit ihr zu beraten. Sie hatte einfach alles über jeden gewusst.
    Sophia lachte. »Yuji hält so viel von dir, dass ich manchmal schon eifersüchtig bin. Ich konnte es gar nicht
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