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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition)
Autoren: Gabrielle Zevin
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In einem solchen Fall, sagte er, könnte möglicherweise eine Neubewertung von Dauer und Qualität des Aufenthalts von Anya Balanchine in Liberty notwendig werden.«
    Bei dem Wort »Dauer« erschauderte ich. Mir war nur zu bewusst, welches Versprechen ich Charles Delacroix in Hinblick auf seinen Sohn gegeben hatte.
    »Als dann damals die Wärterin mit der Nachricht zu mir kam, der junge Delacroix hätte Anya Balanchine besucht, weißt du, was ich da beschloss?«
    Sie – o Schreck! – lächelte mich tatsächlich an.
    »Ich beschloss, nichts zu tun.
Evie,
sagte ich mir,
am Ende des Jahres lässt du Liberty eh hinter dir, dann musst du nichts mehr tun, was dir vorgeschrieben wird.
«
    Ich unterbrach die Wiedergabe ihres Selbstgesprächs: »Sie verlassen Liberty?«
    »Ja, es sieht so aus, als sei ich gezwungen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, Anya. Da machen sie einen gewaltigen Fehler. Niemand anders als ich kann mein kleines Reich hier führen.« Sie winkte ab, wechselte das Thema. »Aber wie ich eben schon sagte …
Evie,
sagte ich mir,
du bist diesem schrecklichen Charles Delacroix überhaupt nichts schuldig. Anya Balanchine ist ein gutes Mädchen, wenn auch aus einer sehr schlechten Familie; sie kann nichts dafür, wer sie besucht und wer nicht.
«
    Vorsichtig bedankte ich mich.
    »Sehr gern geschehen«, antwortete sie. »Vielleicht hast du irgendwann die Möglichkeit, mir auch einen Gefallen zu tun.«
    Ich erschauderte. »Was möchten Sie von mir, Mrs. Cobrawick?«
    Sie lachte, nahm meine Hand in ihre und drückte sie so fest, dass ein Knöchel knackte. »Nicht mehr als … es würde mir schon reichen, dich als meine Freundin bezeichnen zu dürfen.«
    Mein Vater hatte immer gesagt, nichts sei kostbarer und unbeständiger als Freundschaft. Ich schaute in die dunklen, rotgeränderten Augen der Anstaltsleiterin. »Mrs. Cobrawick, ich versichere Ihnen aufrichtig, dass ich diesen Freundschaftsdienst niemals vergessen werde.«
    Sie gab meine Hand frei. »Nebenbei bemerkt, ist Charles Delacroix erschreckend ahnungslos. Wenn ich bei meiner Arbeit mit notleidenden Mädchen eines gelernt habe, dann dass es niemals etwas nützt, ein Liebespaar zu trennen. Je mehr Druck man ausübt, desto mehr Gegendruck wird erzeugt. Das ist wie eine Fingerfalle, da kommt man nicht mehr raus.«
    In diesem Punkt irrte Mrs. Cobrawick. Win hatte mich nur jenes eine Mal besucht. Ich hatte ihn geküsst und dann gesagt, er solle nicht mehr wiederkommen. Zu meinem großen Verdruss hatte er sich tatsächlich daran gehalten. Seit jener Begegnung war ein Monat vergangen, ohne dass ich noch etwas von Win gesehen oder gehört hätte.
    »Da du uns morgen verlässt, ist dies hier nun auch unser Abschlussgespräch«, erklärte Mrs. Cobrawick. Sie öffnete meine Akte auf ihrem Tablet. »Mal sehen, du wurdest hier eingewiesen wegen …« Sie überflog die Akte. »Illegalen Waffenbesitzes?«
    Ich nickte.
    Mrs. Cobrawick setzte die Lesebrille auf, die an einer Kette um ihren Hals baumelte. »Wirklich? Mehr nicht? Ich meine mich zu erinnern, dass du auf jemanden geschossen hast.«
    »Ja, in Notwehr.«
    »Na, egal. Ich bin Erzieherin, keine Richterin. Bereust du deine Verbrechen?«
    Die Antwort darauf war nicht leicht. Das Verbrechen, das mich hierhergeführt hatte, bereute ich nicht: den Besitz der Waffe meines Vaters. Auch das eigentliche Verbrechen tat mir nicht leid – auf Jacks geschossen zu haben, nachdem er auf Win anlegte. Und ich bereute nicht den Handel, den ich mit Charles Delacroix eingegangen war, um die Sicherheit meiner Geschwister zu gewährleisten. Ich bereute nichts. Natürlich spürte ich aber, dass es nicht gut ankommen würde, wenn ich das laut aussprach. »Ja«, erwiderte ich, »es tut mir sehr leid.«
    »Gut, dann erachtet die Stadt New York« – Mrs. Cobrawick schaute auf ihren Kalender – »Anya Balanchine ab morgen, den siebzehnten Tag im September des Jahres 2083 , als erfolgreich resozialisiert. Viel Glück dir, Anya. Auf dass die Versuchungen der Welt dich nicht rückfällig werden lassen.«
     
    Als ich zurück in den Schlafsaal kam, war das Licht schon gelöscht. Ich tastete mich vor zu dem Etagenbett, das ich mir in den vergangenen neunundachtzig Tagen mit Mouse geteilt hatte, und sie riss ein Streichholz an und machte mir Zeichen, ich solle mich zu ihr aufs untere Bett setzen. Sie hielt mir ihren Notizblock hin.
Ich muss dich noch etwas fragen, bevor du entlassen wirst,
hatte sie auf einen ihrer kostbaren
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