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Echtzeit

Titel: Echtzeit
Autoren: Gabriel Barylli
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Zimmer. Und man nichts sieht. Nur den schmalen, gelben Lichtstreifen unter der Türe, hinter der Mama und Papa sich wehtun. Ja. Davon erzählt man auch dem Liebsten. In den Nächten, in denen man beginnt, sich kennen zu lernen. Wenn man warm und noch beisammen liegt und man beginnt zu vertrauen. Dann erzählt man davon. Von der Angst, alleine zu sein. Von der Erinnerung an die vielen Schmerzen. Von den Tränen. Von den Tränen. Den finsteren. Das erzählt man alles, um dem Liebsten zu sagen: Seit du da bist, ist das alles anders. Seit du da bist, habe ich keine Angst mehr. Seit du da bist, ist die Dunkelheit in der Nacht nicht mehr furchtbar. Die Dunkelheit ist mit einem Mal wie eine weiche, warme Decke aus dunkelblauem Samt. So ist die Nacht, wenn du da bist …
    Ja, all das erzählt man in den ersten Zeiten. Diese Wahrheit erzählt man. Aber – Isabell – sag mir heute die Wahrheit – kannst du alles erzählen? Jetzt? Nach den vielen Jahren? Wenn die Nächte zur Gewohnheit geworden sind? Wenn es selbstverständlich geworden ist, dass er neben dir liegt? Wenn er langweilig geworden ist? Kannst du das sagen? Kannst du Stefan sagen, dass es auch langweilig ist mit ihm? Kannst du ihm sagen, dass du dir manchmal vorstellst, wie es wäre mit einem anderen Mann? Wie es wäre mit vielen anderen Männern? Wie es wäre, wenn du eine Hure wärst? Am Freitagnachmittag. Und du liegst in deinem Zimmer und wartest, dass die Türe aufgeht und sie kommen rein. Einer nach dem anderen. Und sie ficken dich und gehen wieder. Kannst du deinem Stefan diese Wahrheit sagen? Es ist doch ein Teil der Wahrheit. Ein Teil deiner Wahrheit, Isabell. Weil du eine Frau bist. Eine ganz normale Frau. Eine Frau, die einfach mal nur durchgefickt werden will. Von irgendwelchen Typen, von denen du nicht einmal das Gesicht erkennst?! Das ist ein Teil der Wahrheit, die in jeder Frau schläft. Ich weiß das so genau, weil ich einen Artikel darüber gelesen habe. In einer Zeitschrift, die sich mit Psychologie beschäftigt. Ich habe dann damals mit meinem Psychoanalytiker darüber geredet. Warum ich von Männern einfach nur gefickt werden will. Hie und da. Nicht immer. Versteh mich nicht falsch. Ich will das nicht immer und ausschließlich. Aber ich will es eben auch und das ist meine Wahrheit. Mit irgendjemandem muss man über seine Wahrheiten reden können. Und so frage ich mich, ob du mit Stefan darüber reden kannst. Oder ob ihr eure tiefsten Geheimnisse voreinander verbergt. Zur Sicherheit? Ja? Tut ihr das? So wie alle? Mir kannst du es ja sagen. Isabell. Wirklich. Bitte. Nütze diese Chance und rede mit mir … wenigstens mit mir. Wenn du mit ihm schon nicht über alles reden kannst. Ja?!
    Ich bin da für dich. Jederzeit. Tag und Nacht. Mein Computer hat einen sehr süßen Klingelton eingebaut. Wenn eine E-Mail angekommen ist, klingelt es wie früher zu Weihnachten. Weißt du noch – diese kleinen silbernen Glöckchen, mit denen Mama geläutet hat, wenn es Bescherung gegeben hat. Man hat in der Küche gewartet. Oder im Kinderzimmer. Und mit einem Mal hat das kleine silberne Glöckchen geläutet. Hell, ganz hell und leicht. Und dann ist die Tür aufgegangen und der Baum war da. Der Christbaum. Und die roten Kerzen haben auf den grünen Zweigen gebrannt und alles war warm und gut. Und dann gab es die Geschenke. Nach dem Glöckchen. Und wenn eine E-Mail bei mir ankommt, dann klingelt es so wie damals. Sie haben mehrere Töne zur Auswahl gehabt und ich habe mir das Glöckchen heruntergeladen. Kannst du das verstehen? Ich wollte nicht den Anfang von Beethovens 5. Symphonie. Ich wollte es warm und schön haben. Und wenn du dann antwortest, eines Tages, auf meine Fragen, dann wird es läuten und es wird sein wie zu Weihnachten.
    Ja, das interessiert mich. Du und Stefan. Das interessiert mich wirklich sehr. Du und er und eure Wahrheit. Über die anderen Männer. Interessiert dich, wie das mit mir ist und den anderen Männern? Die Wahrheit? Meine Wahrheit? Ich habe ja nicht das Glück, so wie du, jede Nacht die Liebe meines Lebens neben mir im Bett liegen zu haben. Ich muss mich noch bemühen. Ich muss noch in die Welt hinausrufen: »Hallo, es gibt mich! Wo seid ihr? Ich bin da und suche euch!«
    Ja, das muss ich noch machen. Wenn ich nicht alleine bleiben will. In meiner grünen Wohnung. Manchmal kann ich das Grün nicht mehr ertragen. Ich kann es manchmal nicht mehr sehen. Dann frage ich mich, ob ich sie umstreichen soll. Die ganze Wohnung. An einem
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