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Echtzeit

Titel: Echtzeit
Autoren: Gabriel Barylli
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der Zunge. Und den Lippen. Tausendmal schärfer als nach einer Zigarette. Das ist gar kein Vergleich. Und es dauert so lange, bis sich der Geschmack wieder verliert. Findest du nicht?!
    Ich habe dich immer bewundert, wie du das aushalten konntest! Kannst, muss ich sagen. Ich glaube, dass er immer noch Zigarren raucht. Habe ich recht?!
    Du kannst es mir ja schreiben. Mit einer E-Mail. Oder anrufen. Oder einfach vorbeischauen und wir reden über den Geschmack von Zigarren auf Männerlippen. Ich bleibe so lange an dem Thema hängen, weil ich erst unlängst von einem Mann geküsst wurde, der zuvor eine Zigarre geraucht hatte. Eigentlich hat er auch zwischen unseren Küssen weitergeraucht und das fand ich sehr seltsam. Aber du weißt ja, wie Frauen sind. Sie sehen so lange über die Fehler ihrer großen Liebe hinweg, bis sie stören … die Fehler. Und manchmal beendet das eine große Liebe. Ein einzelner Fehler kann da genügen. Nur einer. Dein Stefan hat ja gar keine Fehler. Also fast keine Fehler. Wenn er fehlerlos wäre, könnte man glauben, er sei kein Mann. Oder Mensch. Oder so. Aber wie gesagt, einen Fehler hat er in jedem Fall. Er hat dich mir weggenommen … Kleiner Scherz. Wirklich, Isabell, das war nur ein kleiner Scherz …
    Wahrscheinlich einer von den Scherzen, die dazu dienen, die Wahrheit erst möglich zu machen. Die Psychoanalytiker sagen ja, dass in jedem Scherz eine tiefe Wahrheit verpackt wird. Um die Wahrheit zu ertragen, verpacken wir sie in Zuckerwatte, die uns zum Lächeln bringt, wenn wir hineinbeißen. Ich weiß das deswegen so genau, weil ich mich mit Psychoanalyse beschäftigt habe. Also nicht studiert habe, im klassischen Sinn, sondern mich selbst analysiert habe. Ich meine, ich war einmal bei der Psychoanalyse und habe dort über mich geredet. Und einiges erfahren. Es redet ja sonst keiner mit mir. Kleiner Scherz. Und du bist ja auch nicht mehr ansprechbar. Zur Zeit. Noch ein kleiner Scherz. Also dachte ich mir, ich gehe zu jemandem, der mir zuhört. Für Geld. Ein Callboy gewissermaßen. Nur auf psychologischer Ebene. Findest du nicht, dass man es damit wirklich vergleichen kann? Die Männer fahren am Freitag nach der Arbeit in den Puff, um sich zu entspannen und das Wochenende mit ihrer Ehefrau zu ertragen, mit der im Bett nichts mehr läuft. Und ich gehe reden … am Freitagnachmittag. Über meine Ängste und Sorgen und meine Sehnsucht. Und beide zahlen wir dafür. Die Männer fürs Ficken und ich fürs Reden, bei dem mir jemand zuhört. Und nachher sind beide entspannt. Die Männer und ich. Und wir können ins Wochenende gleiten. Mit einem Lächeln. Unlängst habe ich mir gedacht: Warum kommen die Männer nicht zu mir? Wir ficken ein wenig und dann rede ich ein wenig über mich, während sie sich ausruhen und ein Bier trinken und dann gehen wir wieder auseinander. Jeder geht dann in sein Wochenende. Mit einem verschmitzten Lächeln. Das wäre doch eine Lösung? Und würde viel Geld sparen. Aber wie gesagt: Die Wahrheit in diesem Scherz heißt, dass ich reden muss – um nicht verrückt zu werden. Und ficken. Wenigstens hie und da …
    Ich bin dann von dem Psychoanalytiker wieder weggegangen. Das war vor einem halben Jahr. Ich glaube, ich habe dir das damals nicht geschrieben, weil es mir zu blöd war. Es war mir zu blöd, immerzu über meinen Vater nachzudenken und meine Mutter und meine Angst, in der Nacht allein zu sein. Ich weiß schon, dass das die Standardfragen sind, mit denen man sich auseinandersetzen muss, aber mit einem Mal war es mir zu sehr Standard. Verstehst du? Ich habe standardmäßig in meinem inneren Kontakt zu meinen Eltern gesucht! Standardmäßig innere Dialoge mit ihnen geführt. Standardmäßig dabei geweint und plötzlich hat es mir gereicht und ich habe die Therapie abgebrochen. Außerdem war es viel zu teuer. Für fünfzig Minuten reden. Über Dinge, die ich ohnehin schon weiß. Na gut …
    Kannst du mit Stefan über alles reden? Über alles?! Wirklich alles? Das würde mich interessieren. Wie viel Wahrheit hält eine große Liebe in Wahrheit aus? Kannst du mir das verraten? Ich weiß schon. Eine Zeitlang redet man wirklich über alles. Bis hin zur Kindheit. Bis zu Papa und Mama, die einen allein gelassen haben in der Nacht. Im Kinderzimmer. Und von nebenan waren so seltsame Geräusche zu hören. So als würden sie sich umbringen. So als würden sie sich schlagen und würgen und ersticken. Und dann hat man Angst. Wenn die Nacht so finster ist, in dem kleinen
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