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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut
Autoren: Katharina Burkhardt
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verwahrloste Penner lebten. Hier wohnten die Schönen und Erfolgreichen der Stadt, die Glücklichen, jene, die alles hatten, die urbanen Luxus liebten, das Exklusive, Außergewöhnliche. Hier wohnte niemand, der im Szene-Magazin schräge Anzeigen aufgab.
    Der Mann hatte ihr angeboten, sich an einem öffentlichen Ort in der Nähe seines Hauses zu treffen. Mia war erleichtert. Sie hätte es unheimlich gefunden, sofort zu ihm in die Wohnung zu kommen. So aber konnte sie jederzeit gehen, wenn er ihr nicht gefiel, es war ein Spiel, bei dem sie keinerlei Risiko einging. Sie fand die vereinbarte Stelle, lehnte sich an ein Geländer und starrte in das glänzende Wasser des Hafenbeckens hinunter. Das Viertel war elegant, aber tot. Viel Beton, futuristische Hausfassaden, enge Straßenschluchten, durch die der Wind pfiff, kaum Grün. Wie konnte man hier leben? Wo fand man hier Wärme und Geborgenheit?
    »Hallo, sind Sie Mia?«
    Die Stimme faszinierte sie, noch bevor sie den Mann sah, zu dem sie gehörte. Dunkel und sehr erotisch. Mia drehte sich aufgeregt um. Sie blickte in zwei leuchtende blaue Augen, die sie zu durchbohren schienen.
    »Äh, ja, hallo«, sagte sie verlegen.
    »Ich bin Arthur.« Ohne die flüchtigste Spur eines Lächelns streckte er Mia eine Hand entgegen. Er musterte sie mit einem schnellen, wachen Blick und erfasste auf einen Schlag alles an ihr – das schmale Gesicht, die dicken, rotbraunen Haare, die sie hochgesteckt hatte, ihr nervöses Lachen, die langen Beine, die in teuren Stiefeln steckten - Relikte aus Zeiten, in denen es ihr finanziell erheblich besser gegangen war.
    Arthur war groß und schlank, mit einem markanten Gesicht. Sein fast schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten und bereits von vielen Silberfäden durchzogen, auf der Stirn hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Trotz der sichtbaren Alterszeichen sah er außergewöhnlich gut aus und hatte eine so starke Ausstrahlung, dass die Welt um ihn herum in Bedeutungslosigkeit zu versinken schien.
    Eine vage Erinnerung stieg in Mia auf, ein Gefühl, als würde sie Arthur von irgendwoher kennen, aber es fiel ihr nicht ein. Vermutlich lag das nur an seiner Präsenz, die Mia fast unheimlich war.
    Sie hatte einen jüngeren Mann erwartet, keinen, der nicht schon schätzungsweise um die fünfzig war. Vor allem aber hatte sie einen Mann erwartet, der etwas Spitzbübisches an sich hatte, einen Lausbuben, der sich einen Spaß aus frechen Verführungen machte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie beide über diese absurde Anzeige lachen würden, bevor sie nach oben gehen und sich voller Lust und Vergnügen lieben würden.
    Doch Arthur war ganz anders. Er trug einen eleganten Wollmantel, unter dem eine Anzughose zum Vorschein kam. Alles an ihm sah teuer, perfekt und sehr männlich aus. Männer wie er saßen in Aufsichtsräten und regierten die Welt, sie jetteten von Kontinent zu Kontinent, sprachen fließend sieben Sprachen, waren verheiratet und hatten zwei Geliebte. Männer wie Arthur hatten es nicht nötig, sich mit einer Kontaktanzeige eine Frau zu suchen, die ihnen für Geld gelegentlich ein wenig Erleichterung verschaffte.
    Allein die Vorstellung, diesen Mann zu bedienen, fand Mia lächerlich.
    »Und nun?« Sie sah Arthur unschlüssig an. Sie war sicher, dass er sich auch etwas anderes vorgestellt hatte, eine vollbusige Blondine vielleicht, deren Lippenstift eine Spur zu grell war, oder das genaue Gegenteil, eine Frau, die dieselbe kalte Eleganz wie er ausstrahlte. Vor allem aber hatte er vermutlich eine erheblich jüngere Frau erwartet, eine knackige Zwanzigjährige, die sich mit derart schrägen Jobs ihr Studium finanzierte, und keine arbeitslose Enddreißigerin, die vor lauter Scham und Verlegenheit kaum ein Wort herausbrachte.
    »Setzen wir uns doch einen Moment.« Arthur wies auf eine Bank am Kai. Er wartete, bis Mia Platz genommen hatte, bevor er sich neben ihr niederließ, nah genug, um im Kontakt mit ihr zu bleiben, doch nicht so dicht, dass sie sich von ihm bedrängt fühlte.
    »Das mag Ihnen alles seltsam vorkommen. Aber Sie können natürlich jederzeit gehen. Jetzt sofort oder zu jedem anderen Zeitpunkt.« Er sprach leise und mit großem Ernst.
    Mia musterte ihn aufmerksam. Er hatte ein klassisches Profil mit einer geraden Nase und einem kräftigen Kinn. Beim Sprechen wurden makellose Zähne in seinem Mund sichtbar. Als er den Kopf ganz in ihre Richtung drehte, sah sie eine feine, gezackte Linie, die sich von seinem linken Auge bis hinunter
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