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Dying to Live - Die Traurigkeit der Zombies (German Edition)

Dying to Live - Die Traurigkeit der Zombies (German Edition)

Titel: Dying to Live - Die Traurigkeit der Zombies (German Edition)
Autoren: Kim Paffenroth
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darauf, dass mich jemand antippt und befreit. Ich werfe einen Blick über meine Schulter und sehe in einiger Entfernung die Erwachsenen unter einem großen Baum abseits des Feldes stehen. Sie haben die Heckklappe eines Pick-ups geöffnet und laden für alle etwas zu essen aus. Mein Dad dreht sich zu mir um und ich sehe sein Gesicht, sehe, wie sich der erwartungsvolle, glückliche Ausdruck, mit dem er mich normalerweise ansieht, in Angst verwandelt. Er ruft mir etwas zu, aber ich verstehe ihn nicht. Er stürzt zur Vorderseite des Trucks, kramt etwas unter dem Sitz hervor und rennt dann auf mich zu. Ich sehe, dass er eine Waffe in der Hand hält, eine große Pistole. Jetzt brüllt er etwas und wedelt mit den Armen, aber ich verstehe noch immer nicht, was er will.
    In diesem Moment höre ich etwas anderes, wie ein trockenes Flüstern, unzusammenhängend, aber sehr beharrlich. Es hört sich beinahe an wie der Wind in den Straßen der Stadt, der die toten Räume zwischen den leeren Gebäuden erfüllt. Aber das hier ist näher, leiser. Und vor allem weiß ich im selben Moment, in dem ich es höre, dass dieses Geräusch etwas Persönliches, Intimes ist, das nur für mich bestimmt ist. Ich drehe mich um, und der tote Mann, der mir sein unmenschliches Anliegen zuflüstert, ist direkt über mir. Er ist nackt, verdorrt, voller Schorf und Narben und ganz welk. Er packt meinen Oberarm im selben Augenblick, in dem ich zu schreien beginne, und ich versuche, mich loszureißen. Sein Mund öffnet sich, als er sich zu mir herunterbeugt – grau, fast völlig zahnlos und mit obszön wackelnder Zunge. Ich verdrehe mich irgendwie und wende mich von ihm ab, und dabei schreie ich noch lauter und schriller, aber ich kann meinen Arm einfach nicht befreien. Dann höre ich den Schuss, und die Nase und die Augen des toten Mannes verschwinden und hinterlassen ein ausgefranstes Loch in seinem Gesicht. Der Mund ist noch da, aber nun ist er ganz still, und auch die Zunge bewegt sich nicht mehr. Der tote Mann dreht sich ein Stück zur Seite und kollabiert neben mir, aber seine Hand umfasst noch immer meinen Arm. Ich schlage um mich, ohne etwas zu sehen oder nachzudenken, ich schreie nur und winde mich, und endlich löst sich der Griff der Hand ein wenig, und dabei streifen ihre langen, schwarzen Nägel an meinem Arm entlang und kratzen mich. Ich werfe meinen Kopf zurück und heule mit einer Mischung aus Wut, Ekel und Erleichterung auf, als mein winziger Körper hoch- und von ihm fortgerissen wird und vor den Füßen meines Dads landet.
    Dies ist eines der Dinge, an die ich mich zu erinnern glaube, bei denen ich mir aber nicht sicher bin. Ich glaube, wenn ich meinen Dad fragen würde, könnte ich herausfinden, ob diese Erinnerung echt ist, aber das will ich nicht. Ich frage nicht nach. Das habe ich noch nie. Ich glaube, dass ich mich an einen Moment der reinsten, sorgenfreien Freude erinnere – und an einen Moment des plötzlichen, entsetzlichen Schreckens. Und an beiden möchte ich festhalten – an der Möglichkeit beider, nicht an der Gewissheit. Gewissheit über den Schrecken dieses Nachmittags zu haben, wäre mehr, als ich ertragen könnte, das weiß ich genau. Sie würde sich immer weiter ausbreiten und wachsen, bis sie all die guten und schönen Dinge blockierte, die mir je widerfahren sind. Gewissheit darüber zu haben oder überzeugt davon zu sein, dass sich diese schreckliche Szene nie zugetragen hat, wäre hingegen eine Lüge und würde mich nur noch weiter von Menschen wie meinen Eltern und Will entfremden, die genau wissen, dass sie solche Dinge gesehen haben, immer wieder, und bestimmt noch viel Schlimmeres. Sich der Freude gewiss zu sein, würde einerseits bedeuten, in jene Undankbarkeit zurückzufallen, die ich bereits erwähnt habe, und es andererseits als selbstverständlich anzusehen oder zumindest so zu tun, als verdiente ich ein solches Glück – damals, heute oder irgendwann. Sicher zu wissen, dass es niemals geschehen ist, wäre ebenfalls mehr, als ich ertragen könnte. Und so halte ich beide in dieser perfekt ausgewogenen, perfekt ungewissen Erinnerung fest, die ich, bis jetzt, noch nie mit jemandem geteilt habe.
    Wie gesagt, es ist schon komisch, woran wir uns erinnern, und noch komischer, woran wir uns zu erinnern glauben. Was dabei am allerkomischsten ist? Dass wir eine so willige, ja eigenwillige Sammlung von Erinnerungen sind – nicht nur, sie zu haben , nein, sie tatsächlich zu sein – und dass wir nicht nur frei aus
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