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Dunkles

Titel: Dunkles
Autoren: Tommie Goerz
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nach Kleingründlach und befragte die Mutter des Mädchens. Die Frau war völlig aufgelöst, hatte die ganze Nacht wohl nicht oder nur wenig geschlafen, dafür zu viel getrunken. Jaczek konnte das verstehen. Eine Freundin oder Nachbarin war auch da, stand ihr bei oder befriedigte ihre Neugier. Doch ja, sie schien nur anwesend zu sein, weil vielleicht Schreckliches geschehen war. Eine fränkische Schwatze. Sie stand an der geöffneten Tür des kleinen Häuschens gleich an der Straße, als er ankam, und aus dem Inneren hörte er lautes Schluchzen. Hatte ihr wohl doch schon jemand etwas erzählt von dem brennenden Auto, dem Fahrrad und dem Verdacht, den sie hatten? Die Vermutung, stellte sich heraus, war falsch. Den Mühlenbesitzer hatte man vorerst um Verschwiegenheit gebeten, und er hatte sich wohl daran gehalten. So versuchte Jaczek erst einmal, die Frau etwas zu beruhigen und ihr, entgegen seiner eigentlichen Vorahnung, Mut zuzusprechen. Einen Vater übrigens gab es zu dem Mädchen nicht; oder doch, aber dieser war gebannt, wurde strikt gemieden, wie er erfahren hatte. Dafür hatte sie zwei ältere Geschwister. Beide wohnten nicht mehr im Haus.
    Die Nachbarn äugten neugierig um die Ecke, als er dort einparkte. Nein, die Mutter wisse nicht, wo ihre Karin hätte hinwollen. Vielleicht zu einer ihrer Freundinnen, habe sie gedacht, zu Lizzy aus Herboldshof oder zu Sylvie drüben in Steinach. Dort aber habe sie schon angerufen, bei den beiden jedoch sei sie nicht gewesen. Auch in der Schule sei sie gestern zum Unterricht nicht aufgetaucht. Das habe sie noch nie gemacht, einfach so nachts abzuhauen ... oder sie, die Mutter, habe es bisher nicht bemerkt. Man glaubt ja immer, dass man seine Kinder kennt und dass sie einem alles sagen – aber es sind ja keine Kinder mehr und sie machen doch, was sie wollen. Ach, das tut weh, wenn deine Kinder gehen ...
    Klagte sie da über ihre Tochter, oder beklagte sie sich selbst? Auf jeden Fall schien sie in diesem Punkt ganz klar zu sein, trotz der vergangenen Nacht und des Alkohols.
    »Jetzt machen Sie sich mal keine allzu großen Sorgen, Ihre Tochter taucht bestimmt wieder auf«, verabschiedete Jaczek sich keine Viertelstunde später und machte sich auf den Weg zur Schule. Es schmerzte ihn, dass er log. Die Nachbarin schien leicht enttäuscht.
    Karin und ihre Freundinnen gingen in dieselbe Klasse am Fürther Hardenberg Gymnasium. Das kannte Jaczek gut, dort war er selbst gewesen. Wie alt waren die Mädels? 16? 17? Mein Gott, ich darf gar nicht darüber nachdenken – die waren ja, als ich Abitur gemacht habe, noch nicht einmal geboren ... Man wird alt, ohne es zu merken – und fühlt sich dennoch weiter jung. Nichts hatte sich in der Schule verändert. Die Bilder noch immer dieselben, der Boden ... sogar der Geruch war noch der gleiche. Nur die Lehrer waren inzwischen andere – was auch kein Wunder war. Als Lehrer ist man spätestens nach 20 Jahren fertig mit der Welt, verschlissen. Dann kann man nicht mehr, jeden Tag derselbe Trott, Jahr für Jahr, nur die Schüler eilen durch die Jahrgangsstufen. Die Zeit läuft in immer wechselnden, nachwachsenden Schülern an dir vorbei, und eigentlich hast du das Gefühl, dass nicht wirklich etwas geschieht. So erzählten es die Lehrer zumindest. Kein Wunder, dass so viele dann schon mit Anfang, Mitte 50 ... und dann mit dem Wohnmobil durch die Welt fuhren. Frühverrentet. Jaczek konnte das gut nachempfinden. Kommissar Behütuns aber verstand das nicht, mit dem hatte er einmal darüber diskutiert. Könnten die nicht noch irgendwo anders etwas Sinnvolles tun?, hatte der gemeint. In der Verwaltung zum Beispiel oder sonst irgendwo? Vielleicht bei der Post, irgendwas Körperliches? Da kommt man auf andere Gedanken, und das heilt – und die Aussicht darauf, die heilt vielleicht schon vorher. Zehn Jahre lang, wenigstens bis 62 oder 63? Aber Behütuns hatte einen abwechslungsreichen Job, der konnte das nicht nachvollziehen. Außerdem sei er schulgeschädigt, hatte Behütuns ihm einmal erzählt. Habe in 14 Schuljahren ganze zwei gute Lehrer gehabt, der Rest war zum In-der-Pfeife-Rauchen, so hatte er es gesagt. Einer, der ihn besonders hasste, hatte ihm einmal vor versammelter Mannschaft schon zu Schuljahresbeginn prophezeit: »Dieses Schuljahr bestehst du nicht.« Und so war es dann auch gekommen – nein, nicht ganz. Sein Lateinlehrer hielt damals zu ihm und gab ihm statt einer satt verdienten Sechs nur eine Fünf. So konnte er mit zwei Fünfen
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