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Dunkles Indien

Dunkles Indien

Titel: Dunkles Indien
Autoren: Rudygard Kipling
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bald zerschellte auch das Glück, wie so vieles einem entrissen wird in Indien - plötzlich, wie durch einen Blitz aus heiterm Himmel. Der kleine Herr des Hauses, wie ihn Pir Khan zu nennen pflegte, wurde eines Tages traurig und klagte über Schmerzen, deren Ursache nicht zu ermitteln war. Ameera, außer sich vor Entsetzen, wachte die ganze Nacht bei ihm, aber in der Dämmerung des zweiten Tages schüttelte das Fieber - das gefürchtete Herbstfieber - das Leben aus dem kleinen Körper. Es kam so plötzlich, und es war so unwahrscheinlich, Tota könne sterben, daß weder Ameera noch Holden ihren Augen trauten, auf dem Bettchen läge eine kleine Leiche. Dann schlug Ameera den Kopf gegen die Mauer und hätte sich in den Brunnen gestürzt, wenn nicht Holden sie mit aller Kraft davon abgehalten hätte.
    Nur eine Gunst gewährte ihm das Schicksal: als er im Sonnenschein ins Amt geritten war, fand er eine schwere Postarbeit vor, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Aber er hatte für diese Gnade der Götter nur ein totes Herz.
    III
    Wird ein Mensch von einer Kugel getroffen, so fühlt er zuerst nur einen starken Schlag; zehn bis fünfzehn Sekunden vergehen, ehe der Körper die Verstümmelung der Seele meldet. Auch Holden wurde seines Schmerzes nur allmählich gewahr - so, wie er sich einst auch nur langsam seines Glückes bewußt geworden. Zuerst hatte er nur die Empfindung eines erlittenen Verlustes und fühlte, daß Ameera des Trostes bedurfte, wie sie so dasaß, den Kopf auf den Knien, und jedesmal zusammenschauderte, wenn Mian Mittu auf dem Dach oben rief: »Tota! Tota! Tota!« Später aber war es, als stünde die ganze Welt und das tägliche Leben selbst gegen ihn auf, um ihn zu verwunden. Klang es nicht fast wie Hohn, daß am Abend die Knaben draußen jubelten und tobten, wo doch sein eigenes Kind gestorben war! Es peitschte ihn fort, wenn ihn ein Junge ansprach und ihm erzählen wollte, wie sich sein Vater gefreut habe über diese oder jene kleine kindliche Tat. Er mußte seinen Schmerz herunterwürgen, hatte er doch nirgends Sympathien, nirgends Trost oder Zuspruch; Ameera selbst, wenn er müde heim kam von der Arbeit, trieb ihn durch die Hölle der Selbstvorwürfe: vielleicht hätte ein wenig mehr Sorgfalt dem Kinde das Leben gerettet - nur ein ganz klein wenig mehr Umsicht, wie es Eltern zu tun pflegen, denen ein Kind entrissen worden.
    »Vielleicht«, so sagte Ameera immer und immer, »habe ich nicht auf alles geachtet. Meinst du nicht auch? Damals, als er so lang auf dem Dach gespielt hat, schien die Sonne so heiß, - und - ich habe mir das Haar geflochten! Ahi! Vielleicht hat die Sonne das Fieber in ihm ausgebrütet. Hätte ich ihn vor ihr gewarnt, er wäre jetzt noch am Leben. Oh, sag mir doch, daß ich schuldlos bin! Du weißt, ich habe ihn geliebt, wie ich dich liebe. Sag, daß keine Schuld auf mir ruht, oder ich muß sterben - ich muß sterben!«
    »Du hast keine Schuld, bei Gott, - keine. Es hat im Buche des Schicksals geschrieben gestanden; was hätten wir da tun können, ihn zu retten? Was geschehen ist, ist geschehen. Laß Vergangenheit Vergangenheit sein.«
    »Für mich war er mein ganzes Herz. Wie kann ich den Gedanken verscheuchen, wo doch die lange Nacht hindurch mein Arm mich beständig mahnt: wo ist er? Ahi! Ahi! Oh, Tota, komm zurück zu mir - zurück zu mir, damit alles wieder so ist, wie es war!«
    »Still! Still! Um deinetwillen - und - auch um meinetwillen: schweig!«
    »Daran sehe ich, daß du nicht Kummer im Herzen trägst; und wie könnte es auch sein? Die weißen Männer haben steinerne Herzen und Seelen aus Eisen. Oh, hätte ich doch einen Mann aus meinem Stamme geheiratet - ich weiß, er hätte mich geschlagen, aber ich hätte nie das Brot eines Fremden gegessen!«
    »Ich, ein Fremder? Der Mutter meines Sohnes?«
    »Was sonst, Sahib? Oh, verzeih mir - verzeih mir! Der Tod hat mich wahnsinnig gemacht. Du, du bist das Leben meines Herzens und das Licht meiner Augen und der Atem meines Lebens, und - und ich hab dich von mir gestoßen, wenn auch nur einen Augenblick. Wenn du von mir gehst, bei wem soll ich Hilfe suchen? Sei nicht zornig! Wirklich, es war nur der Schmerz, der aus mir gesprochen hat, und nicht ich, deine Sklavin.«
    »Ich weiß, ich weiß. Wir sind zwei – und sind drei gewesen. Um so größer die Notwendigkeit, daß wir jetzt eins sein sollen.«
    Sie saßen beisammen auf dem Dach des Hauses nach alter Gewohnheit. Es war eine warme Vorfrühlingsnacht und Blitze
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