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Dunkles Indien

Dunkles Indien

Titel: Dunkles Indien
Autoren: Rudygard Kipling
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Geld fließt mir zu, damit ich davon leben kann.«
    »Ich verstehe«, sagte Gobind. »Dasselbe tut auch der Geschichtenerzähler in den Bazars, nur spricht er unmittelbar zu den Männern und Frauen und schreibt nichts auf. Wenn jedoch seine Geschichte die allgemeine Erwartung erregt hat und auf dem Punkte angelangt ist, wo dem Tugendhaften in der Schilderung Gefahr droht, dann unterbricht er sie plötzlich und verlangt Bezahlung, bevor er fortfährt. - Machst du es bei deinem Berufe ebenso, mein Sohn?«
    »Ich habe gehört, daß es auch bei meinesgleichen so etwas Ähnliches gibt. Wenn eine Geschichte sehr lang ist, dann verkauft man sie in Abschnitten wie eine Melone.«
    »Oh, ich war auch einmal ein berühmter Geschichtenerzähler«, sagte Gobind. »Damals, als ich auf der Landstraße zwischen Koshin und Etra bettelte, vor meiner letzten Pilgerfahrt nach Orissa. Oh, ich habe sehr viele Geschichten erzählt und noch viel mehr gehört, wenn wir des Abends nach langer Wanderung froh beisammen saßen. Ich trage die Gewißheit im Herzen, daß erwachsene Menschen so sind wie die Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt; die ältesten Geschichten sind ihnen die liebsten.«
    »Bei deinen Leuten ist das so«, sagte ich, »aber die Menschen meines Volkes wollen immer neue Geschichten und, wenn sie sie gelesen haben, dann stehen sie auf und sagen, so oder so geschrieben hätten sie ihnen besser gefallen; sie bezweifeln, ob sie auch wahr seien, oder sprechen geringschätzig von ihrer Erfindung.«
    »O wie töricht!« rief Gobind und erhob seine runzlige Hand. »Eine Geschichte ist wahr, solange die Erzählung dauert. Und was das Schwätzen darüber betrifft - nun, du weißt ja, was Bilas Khan, der doch der König aller Geschichtenerzähler war, zu einem gesagt hat, der ihn in einem großen Unterkunftshause an der Straße nach Jhelum unterbrach und verspottete: - ›Fahr du jetzt fort, mein Bruder‹, sagte er, ›und vollende, was ich begonnen habe!‹ - Der Spötter nahm zwar den Faden der Erzählung auf, aber da er weder die Stimme noch die nötige Gabe besaß, blieb er stecken und mußte es sich gefallen lassen, daß ihn die Pilger die halbe Nacht hindurch verhöhnten und knufften.«
    »Bei uns sind die Leute aber in ihrem Recht, da sie ja ihr Geld dafür hergeben. Man darf doch auch einem Schuster Vorwürfe machen, wenn die Schuhe nicht gut sind, die man bei ihm gekauft hat. Wenn ich wieder einmal ein Buch schreibe, sollst du es zu sehen kriegen und beurteilen.«
    »Ja, ja, auch der Papagei sagte zu dem fallenden Baum: Warte, Bruder, bis ich eine Stütze hole«, sagte Gobind und lachte grimmig. »Gott hat mir bereits achtzig Jahre gegeben und noch ein paar darüber. Ich kann jetzt nur mehr auf Tage rechnen. Jeder Tag, der mir gewährt wird, ist eine Gnade. Du müßtest dich also recht sehr beeilen.«
    »In welcher Weise gehe ich wohl am besten bei meinem Berufe vor«, fragte ich, »o du Fürst aller derer, die Perlen mit der Zunge aufreihen?«
    »Wie kann ich das wissen?« Gobind dachte eine kleine Weile nach. »Doch warum sollte ich es auch nicht wissen! – Gott hat viele Köpfe gemacht, aber es gibt nur ein Herz in der ganzen Welt, bei deinen Leuten und bei meinen Leuten. Alle sind sie Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt!«
    »Ja, aber gerade Kinder können fürchterlich werden, wenn man ein Wort an die falsche Stelle setzt oder beim zweitenmal Erzählen auch nur um einen Deut abweicht.«
    »Freilich! Das weiß ich! Habe ich doch auch einst solchen Kindern Geschichten erzählt; mach es so: -« Seine alten Augen ruhten versonnen auf den bunten Wandmalereien, der blauen und roten Kuppel und den flammenden Poinsettien im Hintergrund. »Erzähl ihnen zuerst von den Dingen, die du mit ihnen zusammen gesehen hast. Dann wird ihr eigenes Wissen das ergänzen, was du unvollständig läßt. Sodann erzähle ihnen, was du allein gesehen hast, dann, was du selber gehört hast, und dann - da sie ja alle Kinder sind - erzähl ihnen von Schlachten, von Königen, Pferden, Teufeln, Elefanten und Engeln; aber vergiß auch nicht, ihnen von Liebe und dergleichen zu erzählen. Die Erde ist voll von Geschichten für jemand, der hören kann und die Armen nicht von seiner Türe weist; die Armen sind die besten Geschichtenerzähler, denn sie müssen jede Nacht ihr Ohr an die Erde legen.«
    Seit jenem Gespräch reifte der Stoff für mein Buch in meinem Kopf von Tag zu Tag, und Gobind erkundigte sich wiederholt und eingehend, welche
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