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Dunkler Schnee (German Edition)

Dunkler Schnee (German Edition)

Titel: Dunkler Schnee (German Edition)
Autoren: Barbara Klein
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gebetsmühlenartig wiederholt werden, bis man sie auswendig dahersagen kann, spricht man davon, dass die winterlichen Verhältnisse bis auf Weiteres anhalten werden. Der Schnee sei dieses Jahr so früh gekommen, wie schon lange nicht, und werde also so schnell nicht weichen. Für diesen Teil Kanadas sei es extrem ungewöhnlich, bereits Anfang Dezember die Landschaft im weißen Gewand zu sehen. Um das Ungewöhnliche immer wieder herauszustellen, werden die Meteorologen es nicht müde, mit Nachdruck zu betonen, dass Nova Scotia mit Sicherheit vor dem härtesten Winter seit 15 Jahren stehe.
    Mit einem großen Koffer und einer riesigen Hundebox ist Marisa vor zwei Tagen aus dem herbstnassen Frankfurt Richtung Halifax aufgestiegen. Vom Halifax Stanfield International Airport war es mit dem Leihwagen nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel Wellington. Wellington, das in nichts an die große Schwester in Neuseeland erinnert, liegt eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln und den Seen Lake Fletcher und Grand Lake. Der alte Highway 2 durchschneidet diesen Ort wie auch viele andere, die sich nur in Nuancen, hauptsächlich durch ihre klangvollen Namen, unterscheiden; Fall River, Fletchers Lake, Oakfield oder eben Wellington versprechen dem aufmerksamen Reisenden eine Fahrt durch die Geschichte der Besiedelung Nova Scotias. Die farbigen Häuser mit ihren Holzfassaden oder mit den neueren Varianten aus Vinyl leuchten rechts und links des Highways, zahlreiche schon weihnachtlich geschmückt. Man passiert Seegrundstücke mit eigenen Bootsstegen, die freilich im Winter am Ufer liegen, auf der Waldseite höher gelegene Grundstücke mit steilen Auffahrten, hin und wieder Abzweigungen den Berg hinauf, die in die seit den siebziger Jahren kontinuierlich wachsenden Wohnsiedlungen führen. Die Unterschiede der einzelnen Communitys verschwinden im Einerlei des Straßenbildes. Der von Schneepflügen aufgehäufte Schnee längs der Strecke gibt dem an sich schon einheitlichen Bild eine Leitplanke, die dazu verführt, die wenigen Besonderheiten der Orte im Vorbeifahren zu versäumen.

    Marisa mag diese Gegend, das Leben nah an der Natur, die einfachen Häuser und offenen Gärten, die Wildnis, die sich zwischen den Siedlungen wacker hält – bis man wieder Holz braucht. Die Wirtschaftskraft der Provinz muss in Schwung gehalten werden. Außerdem gibt es immer Familien, die ihr Haus mitten im Wald bauen wollen, weg von der Hafenstadt Halifax, auch weg von Bedford, obwohl diese Stadt ein attraktiver Wohnort ist, weil das Leben dort wesentlich günstiger als in Halifax ist. Man will nah an die Rehe und Streifenhörnchen heran, aber mit gutem Anschluss an das Straßensystem. Ganze Schneisen werden in den Wald geschlagen, um ein Haus vor der Straße zu verbergen, aber um ihm einen Zugang zu eben dieser zu gewähren. Die Hausbauer und Holzfäller haben einen guten Job in Nova Scotia. Man wohnt gerne hier, der Freizeitwert ist hoch.
    Hat man sein Haus jedoch direkt an der Atlantikküste stehen, muss man wetterfest sein, denn dort herrscht nicht selten dichter Nebel, der sich hartnäckig über den von Flechten übersäten Nadelbäumen hält, und ist selbst im heißen Sommer auf wärmende Kleidung angewiesen.
    Es ist die kanadische Ruhe, nach der Marisa sich sehnte, als sie den Flug buchte; die Aussicht, die Gedanken zu ordnen, die Gefühle einzufangen, die Angst zu vertreiben. Weg aus Deutschland, nur weg! Weg von allem, was sie durchgemacht hat. Dass sie ausgerechnet nach Wellington kommen musste, an den Ort, in dem sie eine glückliche Zeit verbrachte, scheint ein Wagnis zu sein. War die Entscheidung, hierher zu kommen, die richtige?
    Die Sehnsucht nach Zuversicht war zu groß, als dass sie einen fremden Ort hätte wählen können, an dem sie sich erholen kann. Zuversicht, die sie in den vergangenen Monaten immer wieder verloren, aber nie vergessen hat. Der Gedanke an die alten Gefühle führte bisweilen sogar so weit, dass sie in ihrer Vorstellung ein eigenes Haus in Kanada bewohnt, dass sie hierher ihren Lebensmittelpunkt verlegt.
    Sie hat wieder das gelbe Holzhäuschen am See gebucht, so wie vor über einem Jahr. Doch jetzt ist sie allein. Jetzt ist alles anders, kein Sommer, kein Freund, kein Heiratsversprechen, keine festgeschriebene Perspektive.
    Vor dem Haus ist eine Garage; zu beidem führt eine kurze, aber steile Zufahrt hinab. Das gesamte Grundstück geht bergab. Es scheint, als habe man nur für das Wohnhaus und die Garage zwei Ebenen eingezogen,
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