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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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werden, bei Phil noch mal ein Auge zuzudrücken. Die Liste der Anklagepunkte gegen Mr LaMarr ist lang. Komplizenschaft im Mordfall fällt dabei offenbar kaum noch ins Gewicht. Die Hauptanklagepunkte sind das Betreiben eines Crystal-Labors und unerlaubter Waffenbesitz.
    »Wie immer?«, fragt Tomás und holt uns Kaffee: einen großen Latte für sich, einen Mocha für mich und einen doppelten Cappuccino für Gretchen. Ich sehe zu, wie er sich drinnen in der Schlange vorwärtsbewegt.
    Gretchen zündet sich mit dem Stummel ihrer alten Zigarette eine neue an. »Bevor ich es vergesse, ich habe wasfür dich«, sagt sie und greift in ihre Schultasche. Aus einem Stapel gefalteter Bögen zieht sie einen heraus und schiebt ihn mir über den Tisch zu.
    »Was ist das?«
    »Ich habe letztens im Internet mal
la llorona
gegoogelt.«
    Ich stöhne, mir ist es peinlich, dass ich ihr von
la llorona
erzählt habe. Ich hatte es nur mal so nebenbei während einer Gruppensitzung im Riverside erwähnt. Dachte, es würde sie aufmuntern. Glaubst du etwa, du bist die einzige Verrückte hier? Dann zieh dir das mal rein: Ich war so weggetreten, dass ich sogar dachte, der Fluss spricht mit mir.
    Als ich das Blatt auseinanderfalte, springen mir ein Haufen Artikel ins Auge:
Die dunklen Ursprünge der La Llorona, La Llorona von Küstenwache gesichtet, La Llorona und Elvis bekommen Dämonenbaby im Wal-Mart
.
    »Danke«, sage ich matt.
    »In fast jedem Artikel wird sie als Hexe beschrieben. Nur in einem einzigen ist sie eine
curandera
. Eine Heilerin. Sie hilft Kindern, die sich verlaufen haben, wieder den Weg zu finden, weißt du. So was eben.«
    Sie nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und tritt sie dann mit der Hacke aus.
    »Irgendwie logisch, findest du nicht? Ich meine, waren die Hexen in Europa nicht auch eigentlich Hebammen? Und dann kam ein Haufen Männer daher und entschied, dass sie zu viel Macht hatten. Ich glaube,
la llorona
hat einfach nur einen schlechten Ruf.«
    Ich frage mich, ob sie recht hat. Hat
la llorona
jemals versucht, mich ins Wasser zu locken? Oder hat sie mich gewarnt und ermutigt?
Lauf, Ronnie, lauf!
Vielleicht stimmt es ja, was Gretchen sagt. Ich weiß es nicht, aber zumindest bin ich froh, dass sie es für mich nachgeschaut hat. Die Gretchen von früher hätte nur mit den Augen gerollt und mich angeblafft, den Mist zu vergessen.
    Tomás kommt mit unseren Getränken und einem riesigen Lächeln zurück. »Dann mal los. Wir sind angepiept worden«, sagt er.
    Das ist ein gutes Zeichen. Nicht einmal eine halbe Stunde haben sie für die Entscheidung gebraucht.
    Wir humpeln zurück zum Gerichtsgebäude, vorbei an Portlandia und den Metalldetektoren, dann steigen wir in den Fahrstuhl und fahren hoch zu unserem Gerichtssaal. Dad sitzt auf der Klägerbank und winkt uns beim Hereinkommen zu. Dahinter sitzen die Armstrongs. Mr Armstrong rutscht beiseite, um uns Platz zu machen. Zuversichtlich sehen sie nicht aus – nicht einmal die überlebenden Kinder. Auch sie wissen, dass dies kein glücklicher Tag ist. Aber eine Unterströmung, tiefer als jede Zuversicht, treibt uns, diesem Gericht beizuwohnen.
    Es ist das erste Mal seit dem Tag, an dem sie mich an Land gezogen haben, dass wir alle wieder beisammen sind: Mom, Tiny, Ranger Dave, Gloria Inez, Mrs Kinyon, die Brads, Gretchen, Tomás und ich.
    Ich weiß nicht, welche Strafe Phil LaMarr erwartet, aber es wird in jedem Fall zu wenig sein. Karen ist für immer fort,und wir, die Zurückgebliebenen, sind fürs Leben gezeichnet, mit Schrauben, Narben und Erinnerungen notdürftig zusammengeflickt – und das alles haben wir einem Mann und seiner kleinen privaten Chemiefabrik zu verdanken.
    Die Hitze und Anstrengung haben mich müde gemacht, ich schließe die Augen und lausche nach etwas, das ich gar nicht hören kann. Wir sind viel zu weit entfernt.
    Aber ich brauche den Fluss eigentlich gar nicht, denn das Wichtigste weiß ich ja jetzt. Ich weiß, dass sich die Armstrongs wieder fangen und sich schützend wie eine Gebirgskette vor ihre verbleibenden Kinder stellen werden, auch wenn es für sie nie wieder so sein wird wie zuvor. Tomás und ich sind ineinander verliebt, aber wir wohnen in verschiedenen Städten und das macht das Zusammensein schwer. Doch das ist mir egal, denn als wir mit höheren Mächten konfrontiert waren, haben wir zusammengehalten und überlebt. Gretchen kämpft hart um ihre Zukunft, dabei weiß ich, dass Leute mit ihrer speziellen Sucht keine guten Prognosen haben.
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